Impressionen einer nächtlichen Stadt

Der fahle Mond hing wie eine einsame Funzel über dem Östlichen Marktviertel und tauchte das Dächermeer, die windschiefen Mauern und verwinkelten Hinterhöfe in ein bleiches, blaues Licht. Vom inneren Ring blickend, wo kaum ein Ton aus der Unterstadt hinauf wehte, hatte es ihn an die gefrorenen Wellen einer stürmischen See erinnert, von langem Unbill aufgepeitscht und dann in Hoffnungslosigkeit erstarrt und auch jetzt, da er sich längst in das Gewirr aus aus Elend und Verdruss, aus wenigen breiten Straßen und unzähligen, schmalen Gässchen, hinein geworfen hatte, hallte dieses Bild einer paralysierten Kakophonie in seinem Kopf nach.
„Götterfels, du Schöne, holdes Herz aus Stein, lass mich; mich verzagen im Anblick deiner starren Einsamkeit...“, wiederholte er in seinem Kopf die Worte des Dichters Fenwin von Unbesang aus dessen großem Epos über die letzte Stadt der Menschen, und auch nach so vielen Jahren wurde ihm schwer ums Herz bei dem Gedanken an die Stadt in der er fast sein ganzes Leben verbracht hatte, und die er über alle Maßen liebte. Und obschon ihm die Dichtung gefiel, so wusste er doch, dass jener Dichter nie mehr gesehen haben konnte als die geordnete, kleine Welt des Rurikviertels oder die als Innerer Ring bekannten Promenade, wenn er einige Verse später über die Leere der Stadt sinnierte und über die Ferne einer zweiten Menschenseele.
Es war ein komischer Gedanke, den sich der Dichter da gemacht hatte und nirgends war er absurder als hier, im lauten, dreckigen Unterbauch der Stadt, zwischen Unrat, Katzenjammer und Hurengelächter, Flüchtlingskindern und Halsabschneidern, den Verzagten und den Verlorenen, zwischen gescheitertem Lebensmut und unwiederbringlichem Verfall, dem Mief von zu viel Mensch und zu viel Tier auf zu wenig Raum, hier unten wo man nie allein war und doch ganz und gar verlassen.
„...als hätte er es irgendwie geahnt, aber selbst nie ganz greifen können, dort oben, in seiner behüteten Welt.“ Eider lachte stumm in sich hinein und passierte zwei Betrunkene die Mühe hatten einander zu stützen und stieg wenig später über eine verhärmte Gestalt hinweg von der er nicht hätte sagen können ob sie tot war, oder bloß ohne Obdach. Irgendwo lachten Menschen und von wo anders her durchdrang ein spitzer Schrei die Nacht. Vereinzelte Kerzen in kleinen Fenstern wirkten wie verlorene Leuchttürme in einem Meer aus Dunkelheit und schenkten dort spärliches Licht, wo viel zu eng stehende Häuser, deren Firste sich bedrohlich zur Straße neigten auch das letzte Bisschen Mondlicht aussperrten.
Eider hörte das Treiben schon lang bevor er es sah, und wenig später spuckte ihn die Nacht auf einem kleinen Platz aus, wo zwei Fackeln links und rechts eines breiten Türbogens und mehrere bunte Girlanden grell den Weg in die Abyss wiesen. Der Glückliche Stecher war eines der größeren Häuser seiner Art. Bei Tag kaum mehr als eine Ruine mit Katerstimmung, war es des Nächtens ein Palast der Verheißung aus dessen Fenstern die Huren Busen und Ärsche hängten, vor dem gejohlt und gesoffen wurde, während harte Männer und manch eine harte Frau in so etwas wie Uniformen die vielen Unglücklichen von den wenigen Glücklichen trennten, die heute durch die Pforte treten durften und dort im Inneren, wo die Trübsal ihnen nicht hin zu folgen vermochte ihr Erspartes durchbrachten, bis das Licht des nächsten Tages schließlich sie aus allen Träumereien reißen würde. Er kannte es nur zu gut.
Es war laut auf dem Platz, eng, roch nach Schweiß, Erbrochenem und schwerem Parfüm und so hell, dass er seinen Arm vors Gesicht nehmen musste, und sich wegdrehen, um nicht geblendet zu werden. Und es war just in diesem Moment, da ihm bewusst wurde, dass man ihm folgte.
Ein Wieselgesicht am Rande seiner Wahrnehmung, das im nächsten Moment schon wieder verschwunden war und von dem er doch wusste, dass es ihn angestarrt hatte. Wäre der Stecher das Ende seines Ausflugs gewesen, so hätte es ihn nicht groß gekümmert, doch heute war ein anderer Ort sein Ziel und dieses Wissen schärfte seine Sinne und spannte seine Muskeln. Mit drängenden Schritten schob er sich zwischen die Feiernden, vorbei an einer tanzenden Vettel und einem Kleinwüchsigen auf Stelzen, der so irre lachte, und dessen Zähne so weiß waren, dass es keinen Zweifel daran gab was er einzunehmen pflegte. Ein Hagerer folgte ihm für zwei, drei Schritte, hing eindringlich an seinem Arm, redete von Brückenware und bester Qualität, bis er ihn abgeschüttelt und im Gewirr verloren hatte. Kurz kreuzte er den Blick mit einem vierschrötigen Kerl, mit dem er früher schon einmal aneinander geraten war, und während er noch hoffte, dass dieser ihn genau heute Nacht nicht erkannt haben mochte, hatte er urplötzlich ein junges Mädchen mit entblößten Brüsten und zartem Gesicht in den Armen, bevor es jemand fortriss und es weiter zog. Er sah noch einen langen Schopf roten Haares, rissige Strumpfbänder unter viel zu kurzem Rock, und schon war der schlanke Leib wieder im Gewühl der Leute verloren.
Und während er ihr noch nachsah, da hatte ihn die Menschenmenge am anderen Ende des Platzes bereits wieder ausgespuckt. Er entfernte sich, langsam erst, dann schneller und nicht ohne sich dabei zu ertappen, wie er sich noch zweimal verloren umblickte.
Sie hatte dort nicht hin gehört.

Kommentare 2

  • Danke dir.
    Ich bin mir bewusst, dass 'mein' Götterfels und das offizielle vielleicht gar nicht sooo viel mit einander zu tun haben.
    Trotzdem, schön, dass es Dir gefällt.

  • Sehr schön. Ich mag das Bild der Stadt das du dort zeichnest (mehr als das, wie es die meisten darstellen), und die Stimmung die du erwirkst. Gefällt mir überaus gut.