Die Sage von der mitfühlenden Weide

Vor vielen vielen Jahren, als die Götter noch unter uns weilten, zog eines Herbstes Melandru, die Göttin der Natur, aus in die Welt mit dem hehren Ziel, Frieden zu schaffen zwischen den Völkern.
Sie, welche als älteste und weiseste der Götter bekannt war, wusste schon damals um die Gefahren, welchen wir alle uns sehr viel später einmal stellen müssen, und wollte den Lebewesen dieser Welt die bestmögliche Verteidigung ermöglichen: Ein Band des gegenseitigen Respektes und der Freundschaft sollte gesponnen werden, auf das ein jedes Lebewesen Seite an Seite, eins und stark, gegen jene stehen würde, die sich gegen das Volk der Menschen und das Leben an sich vergehen würden. Doch den Völkern Tyrias fehlten die Weisheit und die Einsicht der Nährenden, und so stieß sie immer wieder aufs Neue auf Misstrauen und Ablehnung.
Ein gescheiterten Versuch, zwei Völker zu einen, traf sie besonders hart, und so ging sie in einen nahegelegenen Wald, um dem schwer auf ihr lastenden Kummer freien Lauf zu lassen. Gleich neben dem Fleckchen Erde, an dem die Göttin sich niedergelassen hatte, wuchs aber eine gar prächtige Weide, welche ob des Kummers der Heiligen selbst ganz traurig wurde. So neigte sie ihre hochwachsende Baumkrone und ließ alle ihre schmalen Äste hängen, auf das sie der Melandru Wangen erreichen und sie zu streicheln vermochten.
Da war die Göttin ganz ergriffen von dem Mitgefühl der Weide und wurde getröstet.
„Ich danke dir, geliebtes Kind Weide.“ sagte da die Nährende. „Nun höre meinen Segen: Du, die du dich nicht dem Kummer von Fremden verschließt und dich selbst erniedrigst um Trost zu sein in bitterer Stunde, du sollst von nun an als Trösterin bekannt und überall als Heilbringerin erhöht werden. Nirgendwo soll es unter meinen Kindern solche geben, die dich nicht achten und schätzen – auf immer sollst du in Liebe und Achtung verbunden sein mit den Geschöpfen dieser Welt.“


Und ihre Worte wurden wahr: Die ganze Weidenfamilie bekam die Fähigkeit, überall ansässig zu werden und zu überleben wo sie nur wollte, sodass sie schon bald auf ganz Tyria bekannt wurde. Ihre Wurzeln festigen den Boden, sodass andere Bäume an ihrer Seite wachsen können; sie bietet kleinen Tieren Heim und größeren Nahrung. Da man sie besonders häufig an Frischwasserquellen antraf wurde sie unter den Menschen schnell zu einem sicheren Anzeiger für Trinkwasser und die heilenden Eigenschaften der Weidenrinde waren kaum zu übertreffen.
Bis heute werden die stabilsten Körbe aus Weidenästen geflochten, das Holz zu feinem Papier verarbeitet und aus ihrer Rinde wird vielfältige Medizin gegen körperliche wie auch seelische Schmerzen und Beschwerden zubereitet.


Und wenn du einmal vor Trauer nicht weiter weißt und Verständnis nirgendwo zu erwarten ist, dann setze dich nur vertrauensvoll an eine Trauerweide, erzähle ihr von deinem Kummer und lausche ihrem heilenden Gesang – immerhin heißt es, das ihr Mitgefühl einst selbst eine Göttin hat trösten können...