Die vielen Schichten der Wirklichkeit

Schummriges Dämmerlicht haucht grotesken Schatten Leben ein, bringt sie zum Tanzen und Herumtollen, raubt ihnen Gliedmaßen und wandelt sie zu gefährlich anmutenden Monstren, die die zwei Männer, welche an einem kleinen Tisch sitzen, umgarnen wie ein loyaler Hund seinen Herrn. Einen Blick für dieses gruselige Spiel hat jedoch keiner von beiden, erfordert das Schachbrett mit seinen Figuren, welches in der Mitte des alten Holztisches thront, ihre gesamte Aufmerksamkeit. Zug um Zug setzen sie ihre Figuren schweigend, bringen Springern wie Rittern Bauernopfer dar, ziehen Grenzen mit ihren beweglichen Festungen und bedrohen des Kontrahenten König mit der bezaubernden wie kriegerischen Dame. Sie schenken sich nichts, versuchen stets alles zu nehmen und nur das Mindeste zu geben in diesem Spiel der Könige, dass nur dem Gewinner Ruhm gewährt. Dem Verlierer jedoch wird Schmach und Schande zuteil.


„Sie ist wissbegierig, nimmt alles und will noch mehr. Aber Lehrstunden wie Gunst wollen ausgewogen sein. Daher lautet die Frage nicht, ob ich ihr Vertrauen schenke, sondern wie viel davon. Ein Mindestmaß ist erforderlich, wenn mein Ruf erhalten bleiben soll.“, ergreift der rechte der beiden Männer das Wort, erfüllt das sonst leere, herunter gekommene Zimmer mit melodischen wie tiefen Bariton, überspielt für einen Lidschlag das leise Heulen des Nachtwindes, der sich eng an die Hauswände schmiegt. Die Stimme des linken Mannes hingegen klang wie ein weit entferntes Echo, als sei er gar nicht hier, als sei er nicht wirklich. „Der Schein wurde bereits gewahrt. Ihr wurdet gesehen. Wieder.


„Das war nicht das Ziel. Nein. Es war ein Nebenverdienst.“ – „Ich weiß, dass das nicht das Ziel war. Er war es. Seine Anwesenheit. Und das er sieht.“– „In der Tat. Er hat es gesehen, wenngleich keinerlei Reaktion kam. Aber ein Mann von seinem Schlag kann nicht anders, als zu reagieren. Früher oder später. Schach, im Übrigen.“ Noch während der Rechte der beiden spricht, hebt sich die mit zwei Ringen geschmückte Hand, um den Läufer zwei Felder zu verschieben und den schwarzen König zu bedrohen. „Er ähnelt Dir. Unterschätze ihn nicht. Und mache es nicht zu einer persönlichen Fehde.“, mahnte das Echo ihm gegenüber derweil es den König hinter der Dame und einer Festung in – vorläufige – Sicherheit bringt. „Er ist im Vorteil. Ressourcen wie auch Bündnisse hat er genug. Vielleicht sollten wir den Plan von ihr umwandeln und uns an Löwenstein wenden?“ Eine herrische Handbewegung wischt die Frage, kaum ausgesprochen, vom Tisch und erfüllt den Raum abermals mit eisigem, konzentrierten Schweigen, als habe der Linke der Beiden nicht nur einen gefährlichen Gedanken gedacht, sondern ihn in nicht zu ignorierende Worte gefasst. Wenn etwas mächtiger ist als Feder und Schwert, so sind es Ideen. Ideen, die sich einnisten, Wurzeln schlagen und nicht mehr los lassen. Vielleicht ein Gutes also, dass die Gedanken in ihrer Wanderschaft unterbrochen werden, als ein Fremder in den Lichtschein tritt nachdem das markante, metallische Klicken sein Kommen bereits angekündigt hat.


Ein kurzes Zögern unterbricht die bestimmten Schritte, die den Fremden in den Raum hinein tragen, hat er wohl nicht erwartet seinen blonden Herrn alleine anzutreffen nachdem er doch Stimmen vernommen hat. Aber kein Wort kommt über die wulstigen Lippen, als sich der untersetzte Kerl, in dunklem Ledermantel gehüllt, knirschend vor dem Mann verneigt, dessen Präsenz den gesamten Raum vereinnahmt. Nichts desto trotz scheint seinem Herrn bewusst zu sein, was seine Ankunft bedeutet, gibt er nach einem kurzen Moment des Labens eine Anweisung: „Lass ihn herein und bring es gleich mit, Henry.“ Mit eiligen, lauten Schritten kommt der Diener den Worten seines Herrn nach und verschwindet wieder aus dem Raum. Nicht für lange aber, erscheint er alsbald wieder und bringt zweierlei mit sich; Eine versiegelte Pergamentrolle in der linken Hand und zu rechten Seite einen drahtig gebauten, jungen Mann, dessen blasses Gesicht von einem Meer aus onyxfarbenden Haaren umrahmt wird. Ohne zu zögern gehen beide vor dem blonden Hünen in der Mitte auf die Knie, huldigen ihm, zollen mit einem Kuss auf den dargebotenen Siegelring ihren Respekt.


„Erhebe Dich, Samuel. Ich habe einen Auftrag für Dich.“ Keines Blickes wird Henry, der weiterhin auf den Knien verweilt, gewürdigt, auch, als er der versiegelten Rolle beraubt wird. „Lies. Fehlschlag ist dieses Mal keine Option. Enttäusche mich also nicht.“ Mit Ehrerbietung nimmt Samuel entgegen und bricht sogleich das rote Wachssiegel, um die ihm gestellte Aufgabe zu lesen. Seine schmalen Lippen bewegen sich Wort für Wort mit, helfen ihm sich den Befehl seines Herrn einzuprägen, auswendig zu lernen, auf dass er nicht vergisst, was ihn die nächsten Wochen, wenn nicht gar Monate beschäftigen wird. Fünf Mal, so scheint es, schafft er es das Pergament durchzulesen, dann zerspringt es in hunderte kleiner, schimmernder Scherben, als habe es nie wirklich existiert. Als sei es nie Wirklichkeit gewesen. Es bedarf keiner weiteren Worte, keiner Erklärung oder einem laschen Versprechen nach Lohn. Der Auftrag wurde gegeben und somit wendet sich das Schwarzhaar ab, um den Raum zu verlassen. Henry, der sich ebenfalls von den geschundenen, alten Knien erhoben hat, folgt ihm mit eingezogenem Kopf, als erwarte er eine Zurechtweisung für Etwas wovon er weiß, dass es sein Fehler ist. Doch sie folgt nicht, sodass sie den blonden Hünen wieder alleine zurück lassen.


Schachmatt.“, ertönt die ferne Stimme hinter dem vermeintlichen Silberhaar, der sich auch sofort umdreht, ein missbilligendes Stirnrunzeln zur Schau tragend. „Wirklich?“ Skepsis wie auch eine stumme Anschuldigung schwingen mit, glaubt man nicht daran, dass sein Kontrahent so ohne weiteres das Blatt gewendet hat. „Aber, aber. Was ist schon wirklich?“ Eine Antwort folgt nicht mehr, zerspringt der Andere tonlos in tausende, violette Scherben, die den goldenen Lichtschein übertünchen und dem grotesken Schattentanz eine besondere Note verleihen. „Wirklichkeit ist das, was man daraus macht.“


"I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it."
Evelyn Beatrice Hall; The Friends of Voltaire (1906)


"Oh mein Gott, er schluckt ihn ja wieder runter!"
Kay beim ersten Mal. (2016)

Kommentare 8

  • Oi! So viel Kommentare. <g>


    @Estelion/Agroman; Im Grunde ist es sehr extravagantes Selbstgespräch, japs! Und die Frage nach psychischer Stabilität stellt sich doch bei dem Hohenheim eigentlich erst gar nicht, oder? :D


    <Gwennis und Guffel knuff> Danke ihr zwei!


    @Motte; Jaaaah! Das war eigentlich voll unbeabsichtigt aber im Nachhinein musste ich echt drüber lachen, hue, hue, hue!

  • Uhrzeit 13:37. Das kann kein Zufall sein!


    Wirklich sehr cool gemacht.

  • Eine sehr schöne Art und Weise, das Selbstgespräch mit dem eigenen Mesmerklon darzustellen. Und eine Grenze wird auch keineswegs überschritten, finde ich. Auch wenn man sich die Frage stellt, ob das Ganze für Richards psychische Stabilität spricht! *g*

  • Ich find es auch toll geschrieben und freu mich über die neuen Einblicke von Richard.
    Gerne mehr davon.

  • Ich ebenso. Ich bin zwar selbst gerade mit Mesmer-Menschenfälschungen sehr vorsichtig und halte mich dabei immer lieber zurück (aus Unsicherheit, wo da die Grenze liegt), aber geschrieben ist es zweifelsohne sehr gut und auch die Stimmung und die Pointe sind greifbar, angenehm und auch etwas filmisch.

  • Ich mags!

  • Ich werds versuchen. Aber danke :o)

  • Du solltest öfter schreiben. Mir gefällt es gut.