Mutter

„Wenn du das tust, kannst du mich gleich vergiften! Lillian, nicht! Ich schwöre dir, so wahr ich deine Mutter bin, das ist mein Tod!“ - „Mutter, jetzt lass mich los! Du machst dich so lächerlich. Jetzt hör auf, du tust dir noch weh!“ - „Niemals, eher sterbe ich! Hörst du, ich wähle den Tod! Ich selbst entscheide wie ich sterbe!“ - „Mama, das ist keine deiner Opern!“
Da lagen sie nun auf dem staubigen Boden von Mutters Turmzimmer und rangen mit einander, wie zwei halbstarke Gören die sich um den Liebesbrief des schönsten Jungen der Klasse stritten, den sie beide für sich beanspruchten. Es wäre lächerlich gewesen, wenn es nicht gleichzeitig auch irgendwie so zum heulen war. Da lag sie, Lillian, die sich auf Bitten der versammelten Dienerschaft auf den langen und verwinkelten Weg nach oben gemacht hatte, um Tacheles mit ihrer Mutter zu reden, rücklings auf dem Boden und erwehrte sich nun den „Angriffen“ selbiger. Sie hatte gewusst, dass ihre Mutter für Ärger sorgen würde. Sie hatte mit Protest und Gezeter gerechnet, schon als sie die Tür des Zimmers aufgezogen hatte und ihr ein Schwall verbrauchter Luft entgegen geschlagen war. Aber, dass ihre Mutter, die seit Jahren ihr Zimmer nicht verließ, die bis auf ihre Leibdienerin Margarete – die im übrigen am heftigsten um Lillians Beistand gebeten hatte – jeden anderen Menschen, sogar ihre eigene Tochter, nur durch mehrere schwere, dicke Vorhänge getrennt empfing, um bloß nicht gesehen zu werden; dass diese Frau sich in irgendeiner abstrusen Panik auf sie stürzen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Zugegeben, die Mutter hatte sich eine Bettdecke über geworfen um weiterhin gesichtslos zu bleiben und sie wäre, hätte Lillian sie nicht bei Seite gezogen auch an ihr vorbei und voll in den Schminktisch gerannt, aber, einmal im Kontakt mit ihrer Tochter ließ sie sich jetzt nicht mehr so einfach abschütteln. Nicht ohne, dass Lillian ihr weh tat und das wolltet sie auch wieder nicht. Dafür hing sie jetzt an ihr wie so ein Burggespenst und brachte ihre Tochter zur Weißglut. Und alles nur weil sie lüften wollte! Sie stritten wegen eines verfluchten Schlüssels. Wie kam man überhaupt auf die Idee Turmfenster mit Schlössern zu versehen.
„Mama, es ist bloß Frischluft! Jetzt hör endlich auf, oder ich vergesse mich!“
„Was mich angeht hast du dich schon vergessen! Ich werde nie aufgeben!“
„Mutter, ey! Ich bin stärker als du! Zwing mich nicht alle Kraft aufzuwenden!“
„Ich gahhh...hhhhh...hhhhhh!“
„Mama?“ Mit einem mal fing ihre Mutter an zu keuchen, und wurde ganz schlaff. Die bleichen Glieder, die unter der fein geblümten Decke hervor ragten wurden zittrig und lösten sich von Lillians Handgelenk. Die bekam Panik! Sie ließ den Schlüssel, Schlüssel sein und; musste mit ansehen wie ihre grade noch sterbende Mutter mit ungeahnter Präzision danach grapschte und samt ihrer Decke, noch immer blind, davon stob. Wie schon bei ihrem unerwarteten Angriff hatte sie aber die Richtung falsch eingeschätzt. Sie verfehlte ihr Bett, verwickelte sich in den Trennvorhängen und rannte – es tat einen dumpfen Schlag - gegen ihren Fauteuil. Dort blieb sie wimmernd liegen. Lillian konnte einen Augenblick lang nur glotzen.
Das Klopfen an der Tür holte sie zurück ins Jetzt.
„Junge Herrin, Madame, alles in Ordnung? Wir hörten Gepolter“, erklang Margaretes vom Türholz gedämpfte Stimme aus dem Treppenhaus.
„Ja, ja, alles gut. Glaub ich. Bring mir warmes Wasser. Und Seife, eile dich!“
„Sehr wohl, junge Herrin“, sagte die Dienerin und man hörte ihr Schnaufen, als sie die Treppen nach unten verschwand. Eigentlich wusste Lillian nicht ob alles gut war, es war bloß das Erste, was ihr in den Sinn gekommen war. Schnell krabbelte sie heran und begann ihre Mutter aus dem Decke und Vorhängen zu schälen. Sie hatte sie ihr bestimmt zwei Jahre lang nicht ins Antlitz geblickt und die Erwartungshaltung wuchs mit jeder Lage Stoff um ein weiteres Stück, bis sie sich – wie konnte man sich bloß so in einwickeln – hoch auftürmte, höher als ein ganzer Berg aus Decken.
Als sie schließlich die geblümte Decke zur Seite schlug und es wagte die Augen zu öffnen war sie erleichtert. Erleichtert, ein wenig schockiert und größtenteils ernüchtert. Das bleiche, hohlwangige Gesicht gehörte unzweifelhaft ihrer Mutter. Der Mutter die sie kannte und die sie trotz all ihrer Fehler und Seltsamheiten innig liebte. Es stimmte, sie war abgemagert, ihr vormals volles, schwarzes Haar grau und licht geworden, und ja, die Verwirrtheit die in den vergangenen Jahren ihre Klauen so tief in ihren Geist geschlagen hatte stand ihr selbst jetzt, da sie friedlich schlief – sie hatte nicht einmal einen blauen Fleck, geschweige denn eine Beule - noch immer ins Gesicht geschrieben. Doch wenn man es genau nahm, hatte sie sich nicht merklich verändert. Und keinesfalls war sie, wie man in der Stadt hinter vorgehaltener Hand tuschelte zu einem sich von Träumen ernährenden Alp geworden der Nächtens das Schloss heimsuchte. Irgendwie war sie sogar jetzt – und obwohl die Turneinlage ihre Frisur in ein Schlachtfeld verwandelt hatte – noch von einem Rest derselben Herrschaftlichkeit erfüllt, für die sie Jahre lang bekannt und berühmt gewesen war. Mit einem Mal schlug sie die Augen auf und starrte ihrer Tochter entgegen.
„Hast du dich satt gesehen? Ergötzt? Am Anblick deiner dem Tod geweihten Mutter gelabt? Dann hilf mir auf und ins Bett! Bevor mich die Diener sehen. Man redet eh schon genug über mich. Glaub nicht, dass ich nicht wüsste, was in meinem Haus passiert. Margarete hält mich auf dem Laufenden!“ Lillian schluckte bevor sie sich lautstark echauffierte.
„Mutter! Du hast mich zu Tode erschreckt! Du hättest dir wissen die Götter was brechen können. Bist du so scharf drauf vor Grenth zu treten? Was sollte das?“
„Das sagt die Richtige. Wer wollte denn das Fenster öffnen, Kind? Du warst es die nicht hören wollte. Ich habe dir gesagt, was ich davon halte!“ - „Ja, weil man hier kaum atmen kann so stickig und staubig ist es hier oben! Das ist eine Zumutung. Kein Wunder, dass du dich krank fühlst. Und überhaupt, du hast gesagt draußen warte der Tod auf dich. Ich muss dich aber enttäuschen, das ist die Sonne und die wird dich nicht zu Asche verbrennen.“ - „Ja, ja, ja. Jetzt hilf mir auf. Es ist“, und da machte sie eine schwere Pause um ihre Tochter, die sich anschickte die Mutter samt Decke hochzuheben und zum Bett zu tragen, aus großen, ausdrucksstarken Augen zu mustern, „schon schwer genug für mich, dass du mich so sehen musst.“ Sie seufzte schwer und schlug die Augen nieder. Als sie wieder aufblickte, wurde Lillian klar, dass es andersrum genauso war. Ihre Mutter hatte sie genauso lange nicht gesehen wie umgekehrt. Der Musterung haftete eine Ungnade an, die nur Mütter mit ihren Töchtern haben konnten. Eine Mischung aus Liebe, Tadel und Konkurrenzkampf, unerbittlich wie ein Mahlwerk. „Du bist gewachsen“, stellte die Mutter nach einer kurzen Weile fest. „Erwachsener geworden, ganz wie Margarete es mir gesagt hat. Aus dir ist fast eine Dame geworden. Fast. Ich wollte ja nicht glauben, als sie sagte, dass du etwas mit deinem Haar gemacht hättest - Vorsicht! Pass doch auf. Fast hätte ich mir denn Kopf angeschlagen.“ Es war komisch. Dieselbe Frau die sie gerade noch wie ein Kind behandelt hatte, hatte jetzt, da sie wieder ein Gesicht besaß, eine gerade eben noch unmöglich geglaubte Autorität über Lillian gewonnen. 'Wir bleiben immer Töchter und Söhne', hieß es und es stimmte. Schweigend ließ sie sich sich von ihrer Mutter herumkommandieren, legte sie ganz vorsichtig auf der Matratze ab und wickelte sie den stummen Anweisungen eines dürren, energischen Arms folgend in die Decken ein. Wie klein sie doch war. „So kurz tragen das doch nur Dirnen, habe ich erwidert. Aber es sieht nicht ganz katastrophal aus. Du hast Glück, dass dein Gesicht nicht zu schmal ist! Ich bin schlimmeres von Dir gewöhnt. Wenigstens“, befand sie mit einer gehörigen Portion Fatalismus in der Stimme, „ist es kein Knabenschnitt. Das hatten wir auch schon, erinnerst du dich?“
„Mama! Es freut mich auch, dich zu sehen und ja, du siehst auch gut aus.“
„Du schmeichelst mir, Kind, aber glaube nicht, dass ich es gerne sehe, wenn du so aalglatt lügst.“
„Ich lüge nicht, ich hatte...“
„... etwas Schlimmeres erwartet. Ich weiß, ich weiß. Hach, als Tochter bist du eine Zumutung, weißt du das? Aber was hilft es. Ich habe ja nur noch dich. Hast du das auch von diesem Hallodri?“
„Was denn? Und von wem?“ Antwortete Lillian wie aus der Pistole geschossen, doch ohne es zu wollen, klang sie ertappt dabei und wusste, dass sie ihrer Mutter wohl nie etwas würde vormachen können. „Deinem Fechtlehrer“, erklärte diese pikiert.
„Ich hatte schon immer Fechtlehrer!“ Flötete Lillian, die einem alten Reflex folgend, manierlich am Fußende Platz genommen hatte und sich größte Mühe hab artig drein zu blicken.
„Ja, deinen Vater! Und deinen Bruder! Deine Brüder, ach, Lilly warum erinnerst du mich bloß daran, es ist eine Schande! So jung!“ Die Mutter verzog den Mund zu einer Grimasse und sah aus als wollte sie sich gleich von der Bettkante stürzen, zumindest aber in ein Tränenmeer hinein.
„Er ist kein Hallodri“, antwortete ihre Tochter schnell und lenkte alle Aufmerksamkeit zurück auf sich. Die gerade noch so weinerliche, kleine Frau schaute mit einem Mal wieder streng drein.
„Ach, nicht? Glaub ja nicht, ich wüsste nicht, was ihr da treibt. Er bringt dir allerhand Flausen bei! Du glaubst vielleicht ihr seid heimlich, aber das seid ihr nicht. Nicht heimlich genug. Das ist noch immer mein Haus. Ich weiß alles, was hier vorgeht! Alles!“
„Und dafür musst du nicht mal das Fenster öffnen. Ja. Toll, Mutter! Vielleicht will ich es gar nicht vor Dir verheimlichen?“
„Pah, werde nicht frech! Ich hoffe du weißt was du tust. Solche wie der wollen einem immer an die Wäsche. Glaube mir, ich habe Dutzende wie ihn gekannt. Dutzende, damals! Und sie waren alle gleich!“ Sie verfiel in das Schweigen ferner Erinnerungen und gerade als Lillian glaubte sie würde von diesem Thema abrücken fixierte ihre Mutte sie mit ihrem Schraubstockblick. „Oder hast du dich gar schon weichklopfen lassen und ihn zwischen deine Schenkel eingeladen, wie so eine billige Hafendirne.“ Es war, soweit Lillian, in der schon die Wut ungerechter Behandlung aufkochte, noch sehen konnte, echter Schrecken der sich im Glanz ihrer Mutter Augen spiegelte. „Mama! Das ist ja widerlich! Denkst du so gering von mir? Tomasz steht auf Männer? Verstehst du? Ich könnte ihm den Arsch hinhalten und er wäre nicht interessiert! Also bitte. Für wen hältst du mich denn? Ich bin doch kein Flittchen!“
„Aber du redest wie eines. Zu meiner Zeit hättest du dir dafür den Mund mit Seife auswaschen dürfen!“
„Ja, aber es ist nicht länger deine Zeit. Du verlässt nämlich dein Zimmer nie! Kryta verändert sich und ich bin erwachsen geworden. Ich bezahle ihn mit Silber und ich lerne von ihm was ich lernen will! So einfach ist das.“
„Von einem Sodomiten, eine Schande ist das und nicht 'so einfach' wie du dir das machst, Kind!“
„Wäre es dir lieber er wäre zwischen meinen Schenkeln? Entscheide dich mal.“
Ihre Mutter konnte schlecht widersprechen, obgleich sie ansetzte es doch zu tun. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Das tat sie drei Mal hintereinander und erinnerte Lillian an einen erstickenden Fisch. Aber einen faltigen, ging ihr ein bösartiger Gedanke durch den Kopf, für den sie sich noch im selben Moment schalt.
„Nun gut. Ich muss erkennen, dass meine Erziehung doch nicht spurlos an dir vorüber gegangen ist. Wenigstens beweist du eine gewisse Planungsbereitschaft“, stellte die Dame des Hauses verschnupft fest und ergänzte noch im selben Moment, „aber das Fenster bleibt zu!“
„Wie du willst, Mutter“, entgegnete Lillian nachdenklich und verblüffte ihre Mutter, der erneuter Widerspruch schon auf der Zunge gelegen hatte und den sie jetzt herunterschlucken musste, aufs Neue. „Wie du willst“, wiederholte sie sich und ergänzte, während sie förmlich aufstand. „Ich lasse dich für heute allein, Mutter. Aber egal was du sagst, ich sehe jetzt wieder öfter nach dir. Und mit diesen blöden Vorhängen muss Schluss sein. So grausig bist du nicht.“ Ihre Mutter tat eine vage Bewegung mit der Hand, eine entlassende Geste in der die mildeste Form der Zustimmung enthalten war. Lillian lächelte. Nicht nur, weil sie Margaretes Schritte auf der Treppe vernommen hatte, war es Zeit zu gehen, sondern auch weil ihr ein Ratschlag gekommen war, den Tomasz ihr vor einiger Zeit gegeben hatte. Er hatte seinen Ursprung in der Fechtkunst, ließ sich aber, wie sie feststellen musste, auf alle Bereiche des Lebens übertragen.
Vereinfacht lautete er so. „Nur ein Hornochse rennt frontal gegen eine Wand.“
Sie würde warten bis Mutter mit ihrer Wäsche fertig war, ihren Beruhigungstee getrunken hatte und in ihren Deckenberg gewickelt schlief. Dann würde sie durchlüften und die Fenster längst geschlossen haben, bis die Wirkung des Tees nachließ. Sie würde das Lüften nicht wieder erwähnen und ihre Mutter, selbst wenn sie es begreifen sollte, würde dasselbe tun.
Blieb nur das „Problem“ des Schlosses am Fenster. Nun, Mutter hatte nicht ganz Unrecht gehabt. Tomasz war ein Hallodri. Und er lehrte sie wirklich was sie wollte, und, was brauchbar im Leben war. Zeit ihre Fähigkeiten eines Praxis Tests zu unterziehen.

Kommentare 2

  • Ich musste lachen.

  • What the.....-?


    Geschrieben ist es lebendig und gut. Und nach einem Pixar-Film, wo mir die Überzeichnung quasi noch im Kopf steckt, kommt es unheimlich absurd an. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich davon halten soll und wurde zum Ende hin ungeduldig, während ich den Anfang auf befremdete Weise ziemlich komisch - witzig komisch - fand.


    "Ich könnte ihm den Arsch hinhalten und er wäre nicht interessiert!" <--- Das passiert bestimmt auch wieder. Du kannst ja gar nicht anders =D