Der Vergessene

Tjore lag auf dem Rücken und starrte in den Himmel, der unwirklich neblig vor sich hin waberte. Es war still um ihn geworden und langsam hob er seine Hand an, strich sich prüfend über das Gesicht. Das Letzte was er gespürt hatte waren die unsagbaren Schmerzen in seinen Augen und auf seiner Haut, sowie die klaffende Wunde, die ihm der Grauwolf in die Wange gerissen hatte. Nichts davon war mehr da.
Er sah, setzte sich auf ohne Schmerzen zu haben und schaute sich um. Sein Blick fiel auf einen großen Wolf der nur unweit von ihm im reglosen Gras saß und ihn aus nebligen Augen anstarrte. Tjore bekam mit einem Mal das Verlangen auf den Wolf zu zu gehen und sich an seine Seite zu gesellen. Diesem Verlangen ging er nur kurz darauf nach und stellte sich vor den Wolf. Automatisch ruckte der Kopf des Norn ein Stück tiefer, einer Verbeugung gleich.
"Bruder..."
"Der bin ich. Und du, Tjore, sage mir: War es das wert?"
Tjore wandte den Blick ab und entdeckte die große Halle, aus welcher er nun doch leise Geräusche wahr nahm. Der ewig währende Bierrat, das Ziel eines jeden Norn nach seinem Tod. Er schluckte.
"Du hast meine Lehren vergessen und die verraten, die dir stets zur Seite waren. Die, die sich für dich geopfert hätten und die, die dich aufgenommen haben als du vor dem Nichts standest. Was habe ich dich gelehrt, Bruder?"
"Gemeinsam sind wir stark."
"Und was brachte dich dazu, die Deinen zu verraten?"
"Ich... weiß es nicht."
"Doch, das tust du."
"Hass. Enttäuschung. Seine Worte waren zu verlockend, Bruder."
"Ich dachte, du könntest ihm widerstehen."
"Verzeih mir."
"Dafür ist es nun zu spät. Deine Taten sprechen für sich."

Der Wolf erhob sich und schaute zu dem Norn, welcher den Blick nun abermals auf die entfernte Halle legte. Nur kurz rieb der Geist sein Haupt am Körper des Legendenlosen, vielleicht als kleiner Trost, doch vermutlich viel mehr als schlichte Geste der Begrüßung eines ursprünglich verlorenen Bruders.
"Geh. Versuche dein Glück, doch wird dein Name in Vergessenheit geraten und du wirst deine Zeit damit verbringen, auf ewig über deine Fehler nachzudenken. Andere werden dich vergessen. Du jedoch... wirst dich immer erinnern können."
Damit lief der Wolf davon und verschwand in den Tiefen des nebelverhangenen Waldes, bis auch sein helles Glimmen nicht mehr zu sehen war.
Tjore sah ihm einen langen Augenblick nach, bis er sich aufraffte und zu der großen Halle ging, in welcher der ewige Bierrat anhielt. Bier und Met floss in Strömen, es wurde gekämpft und geprahlt, gegessen und gefeiert. Er erkannte viele Gesichter, bekannte Gesichter. Da waren die Norn, an deren Seite er einst gekämpft hatte. Da war sein Vater, seine Mutter und da waren die vielen Norn, die durch seine Hand hatten sterben müssen. Und weit hinten am Ende der gewaltigen Halle, konnte er sein letztes Opfer ausmachen. Den Wirt und Wolfsbruder Thrym, wie er gemeinsam mit seiner Raija auf die eigene Legende anstieß. Lange haftete Tjores Blick an der Kriegerin mit den drei geflochtenen Zöpfen. Doch diese sah sich nicht ein einziges Mal um. Keiner der Anwesenden nahm ihn wahr, wie er an der Türe stand und durch die Halle schaute. Keiner bot ihm einen Krug an oder erkundigte sich nach seiner Legende.


Und so wandte sich Tjore ab und lief die Stufen der großen Halle hinunter, fort von den Norn, deren Legenden sich von Mund zu Ohr immer weiter verbreiteten und ging hinein in den Wald, wo er von nun an umherirren würde.
Dies war sein Platz.
Der Platz der Verräter und Vergessenen.

„The Norn will not change simply because the Dwarves do not understand our ways.
I'd rather be hated for who I am than loved for who I am not.“

Jora

Kommentare 1

  • Stark. Und irgendwie tut mir der Kerl doch etwas leid. Das ist ja schließlich das Schlimmste für einen Norn.