Wahnsinn oder Schicksal? (Avericus)

Schon wieder befand er sich im vertrauten Raum. Keine Fenster, die Licht herein warfen; keine Möbel, die im Weg herum standen. Nur dieser eine Stuhl in der Mitte des Raumes. Es war so Dunkel, das man den Stuhl nicht mal erkennen konnte, denn auch der Spalt unter der Tür war perfekt abgedeckt. Hier herrschte Dunkelheit und Stille und nichts wagte es, diese zu durchbrechen. Seine Schritte warfen ein leises Echo von den Wänden zurück und verliehen dem Dunkel um sich herum fast schon eine Geisterhafte Stimme. Natürlich war er mit dem Raum schon sehr Vertraut, verbrachte er viel Zeit hier. So ging er ruhigen Schritts auf den Stuhl zu und nahm Platz. Die Hände im Schoß gefaltet, die Beine überkreuzt, den Blick nach vorne gerichtet. Nicht das er irgendetwas sehen würde, aber er schloß nur äußerst ungern die Augen. Eine alte Angewohnheit.
Avericus atmete tief ein und zerbrach die Stille für einen kurzen Moment. Langsam presste er die Luft durch zusammengepresste Lippen hervor und sein Blick wandte sich durch die Dunkelheit. Wieder bildete er sich ein, schattenhafte Umrisse wahrzunehmen. Doch er wusste, das er alleine war. Das machte es zwar nicht besser, aber es verschaffte ihm etwas an Ruhe. Er schloß nun doch die Augen und schüttelte den Kopf leicht, bevor er die Augen wieder öffnete. Die Umrisse waren verschwunden, wie gewohnt. "Beim ewigen Vergessen... Verfalle ich langsam dem Wahnsinn?" ,hauchte er zart die Worte, als würde er erwarten, das jemand versuchte seinen Worten zu Lauschen.
"Nein, keine Sorge. Würdest du verrückt werden, würde ich es dir schon sagen."
Er atmete erleichtert aus, bevor er plötzlich die Stirn runzelte und die Luft anhielt. Diese Stimme. Es war nicht die Seine. War doch jemand in diesen Raum eingedrungen? Jemand, der von diesem Raum wusste? Es war unmöglich. Niemand wusste von dem Raum. Immerhin verschmolz er von Außen mit der Wand und wurde zur perfekten Tarnung. Doch wem gehörte die Stimme dann? Einbildung vielleicht? Sein Blick wanderte Ruhelos umher, als würde er etwas finden wollen, während er das Gegenteil erhoffte.
"Was ist? Vertraust du mir etwa nicht?" ,erklang wieder diese sanfte Stimme, die so Vertraut schien obwohl er sie noch nie vernommen hatte. Wer war mit ihm in diesem Raum? Es konnte keine Einbildung sein. Das, was er sah, beschränkte sich bisher eben nur auf jenes: Visuelle Wahrnehmung. Es erklang bisher nie irgendein Geräusch dabei.
Noch einmal atmete er tief durch, ehe er den Blick wieder nach vorne richtete. "Wer bist du?" ,hauchte er dann wieder. Er strengte sich an, den Blick nicht durch den Raum gleiten zu lassen. Sein Herz pochte, der Hals kratzte, die Ohren rauschten. Doch er gab sich beste Mühe, sich all das nicht anmerken zu lassen. Über die Jahre war er geübt darin, immer ruhig und gelassen zu wirken und sich beherrscht auszudrücken.
"Da wird doch jemand nicht Nervös werden?" Dieses mal kam die Stimme aus einer anderen Richtung. Avericus wollte den Blick wenden, beherrschte sich aber und sah geradeaus. Bis sich wieder ein Umriss vor ihm formte. "Ich finde es ja tragisch, das du mich bereits vergessen hast. All die Jahre habe ich dich begleitet und doch scheinst du mich wieder aus den Gedanken verstoßen zu haben." Ein sanftes seufzen erfüllte den Raum, hallte von jeder Seite wider.
"Ich vergesse nicht und ich verstoße nicht. Wir alle sind die Söhne und Töchter der Sechs." Jetzt schloß er doch die Augen. Den Umriss anzustarren erfüllte ihn mit Unbehagen. Er wusste, das niemand in diesem Raum war. Er musste sich nicht fürchten, wenn er nichts sah, solange er noch hören konnte. Es war seine letzte Karte in solch Situation. "Wer bin ich, zu entscheiden, wen ich vergesse? Noch immer sehe ich die Gesichter jener vor mir, deren Leben ich beendet habe und zu Grenth führte." Fast lag soetwas wie Reue in seiner Stimme, doch er konnte nicht um Vergebung bitten, wenn er selbst an seinen Sünden verantwortlich war. Es wäre lediglich ein Hohn an die Sechs.
"Und doch weißt du nicht wer ich bin." Die Stimme klang enttäuscht, gar Traurig, doch schien sie ihr Spiel weiterhin fortzuführen. "Seit deinem ersten Jahr begleite ich dich. Seit deinem ersten Auftrag belehre ich dich. Seit deiner ersten Stunde in Freiheit beobachte ich dich."
Nachdem diese Worte gesprochen worden, füllte sich sein Inneres mit Unbehagen. Er musste weg. Raus aus diesem Raum. Einen schnellen Weg hinaus finden. Er könnte mit dem Fuß an eines der Stuhlbeine gehen, sich vom Stuhl fallen lassen und den Schwung nutzen, um den Stuhl gegen den Umriss zu feuern. Dann musste er nur noch aufspringen und aus der Tür herausstürmen. Allerdings wusste er nicht genau, wo sich der Umriss befand. Er sah nur sehr undeutlich. Vielleicht könnte er sich auch einfach vom Stuhl abdrücken und sich gegen den Umriss werfen und den Überraschungsmoment nutzen, um den Ursprung der Stimme zu überwältigen. Innerlich wägte er ab, welche der beiden Optionen weniger Risiken birgt und welche wohl eher scheitern würde.
"Ich würde dir raten, den Stuhl als Waffe zu verwenden, anstatt dich Blind gegen einen Gegner zu werfen."
"Wer bist du?" Er kniff die Augen fester zu, konzentrierte sich auf seine Ohren. Keine Atmung, keine Regung. Nichts. Wie ein Geist oder eine Einbildung. Wer auch immer es war, er kannte Avericus gut. Zu gut. Es schien fast so, als würden seine Gedanken gelesen werden. Moment. Gedankenlesen? Gedanken konnten nicht gelesen werden. Es sei denn...
"... Wir teilen uns den selben Kopf." ,beendete die Stimme den Satz. Ein leises, ryhtmisches Klatschen ertönte, doch es ergab kein Echo. Es war abermal eine Einbildung, die sich in seinem Kopf abspielte. "Es ist nicht der Wahnsinn, der dich befällt. Du teilst dir nur deinen Körper. Mit mir."
Einen Körper teilen? Das war unmöglich! Es konnten nicht zwei verschiedene Individuen in einem Körper sein. Es entsprach keinem Sinn. Warum also sollte diese Stimme behaupten, das sein Körper - der Körper von Avericus - nicht nur seiner ist? Es ergab keinen Sinn! Verwirrung machte sich in seinem Kopf breit, als würde sich ein Tuch aus Nebel sich über sie legen. Was sollte er denken? Alles, was er dachte, wurde von der Stimme erkannt. Egal was er tat. Seine Erinnerungen, Erfahrungen und Kalkulationen. Alles schien nicht im Verborgenen zu bleiben. Es gab keinen Ausweg aus dieser Situation. "Was willst du?" ,hörte er sich selbst sagen, als würde sein Körper nun von sich aus reagieren. Ohne das Mitwirken seines Geistes.
"Eine außerordentlich gute Frage." ,gab die Stimme, die offenbar er war und auch nicht, preis. "Du hast dich dem Auftragsmord abgeschrieben. Aber wieso? Du hast Talent und du kennst nichts anderes, außer das Morden. Warum solltest du alles aufgeben? Schuldgefühle? Glaube? Ich verstehe deine Motive nicht. Ich weiß, du wirst mir nicht antworten, doch erlaube mir, dir ein Angebot zu unterbreiten."
Was blieb ihm denn noch anderes übrig? Er wollte nicht auf die Stimme antworten. Allein weil ihm ein Kloß im Hals steckte, der mindestens die Größe eines Dolyaks hatte. Stattdessen nickte er stumm und wagte es, die Augen wieder zu öffnen. Der Umriss stand nun noch Näher bei ihm. Die Umrisse wurden langsam Klarer und es war so, als würde er in einen Spiegel sehen. Welch eine seltsame Aussicht.
"Ich werde dir deine Einbildungen nehmen. Keine Albträume mehr, keine Schattenbilder mehr, keine Angst und keine Panik." Die Stimme machte eine gewählte, dramatische Pause um die Worte wirken zu lassen. "Doch im Gegenzug... Lässt du mich... Deinen Körper verwenden. Wir tauschen im Schlaf und du wirst zum Unterbewusstsein, während ich das Bewusstsein bilde." Schweigen erfüllte den Raum erneut. Kein Ton wurde gesprochen. Avericus atmete nicht mal, wagte er nicht, irgendeinen Ton von sich zu geben. "Ich kenne bereits deinen Entschluss. Der nächste Tag gehört mir."
Somit verblasste der Umriss, Stille kehrte ein und die Dunkelheit herrschte erneut. Seine Hände zitterten, sein Herz pochte noch immer. Langsam richtete er sich vom Stuhl auf und taumelte in Richtung der Tür. Er musste sich an der Wand stützen, denn seine Beine zitterten so Stark, als würden sie jeden Moment nachgeben wollen. Seine Atmung war Flach, unrythmisch. War das gerade wirklich geschehen? Würde er morgen tatsächlich nicht Erwachen? Es gab nur einen Weg herauszufinden, ob er ein Versprechen gab. Er drückte die Tür auf und gleißendes, weißes Licht erfüllte den Raum und nahm ihm die Sicht. War das alles...


Wahnsinn... oder Schicksal?