Bedenke wohl...

"Kommst du zu Bett, Liebling?"


Lisjewira Varyl war immer noch eine attraktive Frau. Der elegante Bogen ihres Halses straffte sich, als sie den Kopf hob, um den Abendkuss ihres Gemahls zu empfangen und mit einem Lächeln der Gewohnheit zu beantworten. Es war nur eine kurze Lippenberührung und dennoch regte sich jähe Abscheu in der Magengrube der Gräfin. Sie hasste diesen Schnauzbart, sie hasste diesen Mund und sie hasste dieses Gefühl pflichtbewusster Beliebigkeit, mit der er ihre Wange berührte, jeden verdammten Abend, seit über dreißig Jahren nun schon. Lisjewira wusste nicht genau, wann das angefangen hatte, doch sie haderte nicht. Hatte sich arrangiert. Vielleicht war es eben nach Jahrzehnten der Zweckehe und zwei dynastisch notwendigen Kindern die einzig mögliche Richtung, die ein solches Zusammenleben nehmen konnte: Höflich unterdrückte Abneigung...und ansonsten größtmögliche Distanz.


"Natürlich, Marcus."


Die Gräfin sah ihrem Gatten durch den Schminkspiegel zu, wie er den Raum verließ. Jeden Abend das verdammte, selbe Ritual. Früher, da wäre sie Marcus Varyl umgehend in sein Bett gefolgt, bereitwillig und nicht ohne eigene Lüsternheit. Er war ein schneidiger Bräutigam gewesen, ein ansehnlicher Gatte geblieben und selbst jetzt, wo sein Haar ergraute, sah er immer noch gut aus. Dennoch war es Jahre her, seit sie einander beigewohnt hatten. Leidenschaft hielt eben kein Leben lang.
Die Gräfin straffte ihre Schultern, lehnte sich voran, dicht dem eigenen Spiegelbild entgegen. Zwei Finger an jeder Schläfenseite zogen die Haut nach hinten gen Haaransatz. Auf wundersame Weise schwanden die Fältchen um ihre grauen Augen, nur für ein paar Momente glückseligen Wiederbringens vergangener Jugend. Wie sehr sie es doch verabscheute, alt zu werden. Vor allem jetzt, wo sie endlich...
Helle Wimpern flatterten, als die Gräfin in einem Aufwallen jäher Begierde die Augen schloss.


Henry...


Der Gedanke an die unaussprechlichen Schändlichkeiten, die ihr junger Liebhaber zwei Tage zuvor zwischen ihren Schenkeln angestellt hatte, ließ die Gräfin Varyl erschauern und die Faltenstrafferei sein lassen. Nein, Lisje. Lass das. Du bist so schön hatte er gesagt und es mannigfaltig bewiesen. Hatte es geschafft, dass sie alte Frau nicht mehr an ihre erschlaffte Figur dachte, die dünn gewordenen Lippen, das Grau ihres Haares, das sich mit noch so viel elonischem Henna bald nicht mehr verbergen ließ. Nein, da hatte sie keinen Zweifel mehr: Der Mann mit den fesselnden, dunklen Augen und den geschickten Händen, der nahm sie zwanzig Jahre ältere Frau, wie sie war. Und periodisch so, wie ihr Ehemann es niemals getan hatte. Wo er sie wohl heute Nacht beglücken würde? "Sorg dafür, dass die Hintertüre offen bleibt." hatte Henry mit verrucht gesenkter Stimme verlangt, "Ich will dich heute in eurem Blauen Salon nehmen." Es hatte ihr die Schamesröte in die Wangen getrieben und jetzt, jetzt konnte sie es nicht mehr erwarten, bis die Uhr die erste Morgenstunde zeigte.


Nein, heute würde Gräfin Lisjewira ihrem Marcus nicht ins gemeinsame Bett folgen. Nicht heute und, ginge es nach ihr, niemals wieder.

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