Weil du eine Azaria bist (Renja)

Raue Winde wehen mir an diesem kalten Morgen entgegen. Eiskalte und salzige Luft schlägt mir ins Gesicht und trägt den unverkennbaren Geruch des Meeres mit sich. Ich mochte diesen Geruch schon immer … er versprach Freiheit und zeugt von einer Welt, die so viel anders ist, als der Dreck in dem ich jetzt lebe. Meine Schritte führen mit lautlos durch die letzte Gasse Löwensteins, bevor ich den Strand erreiche. Noch ist es dunkel… die Bewohner der einfachen Häuser um mich herum kuscheln sich noch ein klein wenig länger in ihre Decken, bevor sie aus ihrem seligen Schlaf erwachen und sich erneut dem harten Alltag stellen müssen. Doch die Menschen interessieren mich nicht. Sie waren mir schon immer gleichgültig und werden es wohl auch immer sein. Ich atme etwas befreiter durch, als ich die letzten Gebäude hinter mir lasse und den festen feuchten Sand betrete. Keine Menschenseele hier. Ich lasse den Blick auf den vom Halbmond beschienenen Strand schweifen und erblicke etwas weiter den Strand runter einen Köter, der sich über einen toten Vogel hermacht. Als ich mich sicher bin, dass ich wirklich alleine bin, schließe ich die Augen und überlasse mich einen Moment lang dem Klang der Wellen. Der Wind, der mir ins Gesicht bläst und das Rauschen der Wellen übten schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich aus. Allmählich merke ich, wie sich mein Atem an das Branden der Wellen anpasst. Bewusst nun atme ich langsam tief ein und wieder aus. Wie konnte mein Leben nur so aus den Fugen geraten? Schon immer war es eine Box voller Überraschungen und Unsicherheit gewesen. Schon immer ging es nur ums nackte Überleben. Aber mit der Zeit hatte ich mir einige kostbare Sicherheiten erworben. Eine kleine einfache Hütte zum Leben, die Fähigkeit des Jagens, um nicht verhungern zu müssen, einen treuen Gefährten der aber auch seinen eigenen Kopf hat – wie ich. Das war alles, was ich brauchte…. Seit dem Tag, wo mir alles genommen wurde. Und jetzt… holt mich die Vergangenheit ein… erschlägt mich fast und beutet mich aus, zerrt an meinen Kräften….


Und mit einem Mal läuft es mir eiskalt dem Rücken herunter … als mir klar wird, dass ich keine Ahnung habe, wie es weitergehen soll.


„Du siehst aus, als wolltest du jeden Moment losschreien…Kätzchen.“


Ruckartig zucke ich zusammen, mache einen Satz nach vorne – weg von der Stimme – greife nach dem Dolch an meiner Hüfte und mache mich bereit zu fliehen. Mein Blick sucht nach der Gestalt, die mich angesprochen hatte und erblickt schließlich eine in Schwarz gekleidete Frau. Als ich sie erkenne, entspanne ich mich ein klein wenig und stoße einen leisen Fluch aus. Ich habe nicht aufgepasst! Wie konnte ich nur so dumm sein?


„Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe sogar etwas Lärm gemacht, als ich mich näherte, aber du warst so in Gedanken versunken…“


An das blasse Gesicht von ihr kann ich mich nicht so gut erinnern, aber an ihre Stimme… Sie klingt so irritierend warm und freundlich. Doch in ihrer Stimme klingt ein dunkler Unterton mit … Er kündet von Leid und Trauer. Ich sollte Angst vor ihr haben, doch kann ich es nicht – weil ich einfach weiß, dass man von ihr nichts zu befürchten hat, sofern man sie sich nicht zum Feind macht. Ich bin ihr einmal begegnet – vor langer Zeit. Was will sie ausgerechnet jetzt von mir?


„Ist es nicht ein wenig zu früh für einen Strandspaziergang, Risa?“


Gelassen steht sie einfach nur da in ihrem schwarzen Umhang und blickt mich musternd an. „Nein. Die Zeit war genau richtig. Es ist nicht einfach dich zu finden.“


„Gut.“ Ist alles, was ich erwidere. Mein Herzschlag beruhigt sich langsam wieder von dem Schreck und endlich kann ich den Griff des Dolches etwas lockern. Abwartend blicke ich die schwarzhaarige Frau vor mich an. Als ich merke, dass sie nichts weiter tut, als mich anzustarren, überlege ich, mich einfach umzudrehen und zu gehen. Aber die Neugier ist wieder stärker, verdammt!


„Was willst du?“ fauche ich sie schließlich an.


Ungerührt sieht sie mich weiter an. „Dir Antworten geben. Ich habe nicht auf alle Fragen eine Antwort. Ich weiß nicht alles, aber vieles.“


„Antworten? Was für Antworten bitte? Auf welche Fragen?“ perplex sehe ich sie an.


„Die Fragen, welche seit einiger Zeit in dir brennen. Die eine große Frage, die dich seit deiner Kindheit verfolgt und die sich jeder einmal stellt. Eine ganz einfache und elementare Frage.“


Verächtliche lächel ich …. So ist das also. Ich kann mich ein Kichern nicht verkneifen und je länger ich darüber nachdenke umso mehr verfalle ich in ein belustigtes Lachen. Risa nimmt es ungerührt hin und diese Ernsthaftigkeit lässt mir nur umso lauter lachen.


„So eine… bist du …also….“ Mir tut der Bach weh… ich muss nach Luft schnappen und doch fällt es mir schwer mich wieder zu beruhigen. „Willst du mir allen Ernstes erzählen, DU weißt die Antwort auf das Warum? Warum ich? Warum jetzt? Warum passiert es überhaupt? Warum all dieses Elend? Warum? Warum? Warum?“


Ihre Antwort ist kurz und knapp als sie mit ernster Miene spricht. „Ja.“ Und die Art und Weise, wie sie mir Antwortet - diese Dreistigkeit – lässt Zorn in mir hervorkochen.


„Du kennst mich überhaupt nicht. Du weißt gar nichts über mich! Was maßt du dir an, etwas so bedeutendes über mich beurteilen zu können?“ Nur meiner Selbstbeherrschung ist es zu verdanken, dass ich sie nicht direkt anspringe.


„Du bist eine Azaria.“ Wieder eine kurze Antwort. Ihre Stimme klingt ruhig und ihre Bedeutung klingt so tief, als wäre es die Antwort auf alle Fragen. Nur ergibt es einfach keinen Sinn. Dennoch lässt mich die Antwort leicht zusammenzucken. Meine Hand fährt wie von alleine hoch zu meiner Brust und berührt durch den Stoff meines Schals das kleine Medaillon, dass dort an einer einfachen Kette ruht. Das einzige, was ich von meinen Eltern besitze.


„Na und?“ blaffe ich sie an und lasse meine Hand wieder sinken. „Soll ich jetzt Schwester zu dir sagen? Oder Cousine? Du weißt, dass mich das nicht interessiert. Ich habe eine neue Familie gefunden. Der Name Azaria bedeutet mir nichts!“


„Du kannst den Namen leugnen, Renja. Doch du wirst immer eine Azaria bleiben. Und damit wirst du auch das Schicksal der Azarias mit dir tragen.“


„Was für ein Schicksal?“ Ist dieser Name verflucht oder was? So wie Risa mit mir spricht verheißt das nichts gutes.


„Der Name ist Fluch und Segen zugleich. In dir fließt das Blut unserer Ahnen und bis ihre Schuld gesühnt ist, wirst du wie die anderen ihre Last auf deinen Schultern tragen.“
Mit diesen Worten dreht sie sich herum und lässt mich alleine am Strand zurück.


Ich bin zu perplex, um ihr hinterher zu laufen… um nach Antworten zu verlangen. Die Bedeutung ihrer Worte geht nur langsam in mir auf und zu verstehen sind sie noch schwerer. Welche anderen? Was für eine Schuld? Was gehen mich meine Ahnen an? Verdammte Scheiße…. Ich will doch einfach nur wieder meine Ruhe!

Kommentare 5

  • Vielen lieben Dank ihr beiden :) Ich freu mich ja schon wenn jemand überhaupt die Geschichten liest, aber dass sie sich dann so flüssig lesen lassen, freut mich ungemein <3

  • wieder mal was sehr feines zu lesen von dir.
    Gerne mehr.

  • Ich kenne den Charakter zwar nicht, aber es liest sich wie jemand den man gerne kennen lernen würde um herauszufinden was ihm in der Vergangenheit alles zugestoßen sein könnte. Sehr interessant. Nichts desto trotz schön geschrieben.
    Habs zwar schon öfter erwähnt, aber ich bin Fan der Ich-Perspektove und die Geschichte liest sich so flüssig als wären die Worte schon vor langer Zeit entstanden und wurden jetzt niedergeschrieben.

  • Verwirrt ist gut.... neugierig ist noch besser!
    Ich freu mich, dass es dir gefällt und ich danke dir für das Lob. Es spornt wirklich an :)

  • Ich bin verwirrt... und neugierig zugleich!


    Du hast einen schönen Schreibstil, das habe ich dir bereits oft gesagt, und verwendest gerade in dieser Geschichte viele bildhafte Beschreibungen, die den Lesefluss nicht aufhalten, sondern eher noch beschleunigen, weil es sich eben gut liest. :)


    Ich lese gerne mehr. *ansporn*