Schöne Jugend

„Du weißt, wie scheiße das schmeckt, ja?“, die speckigen Finger strichen fahrig über das zweite Kinn des untersetzten Mannes, während seine braunen Mausaugen den Rotschopf aus dem breiten Gesicht anfunkelten, „widerlich!“
Demonstrativ presste er die fülligen Lippen aufeinander, um dann beim Ausspucken den Kopf etwas nach vorn zu recken, sodass der Speichel und ein paar zerkleinerte Essensreste auf den dürren Fingern des jungen Mannes landeten. Dieser zog die bleichen Hände im ersten Moment erschrocken zurück, senkte dann aber nur demütig das Haupt: „Es tut mir leid, Herr, aber ich bin leider kein...“
„Kein Koch? Pah, sei dir sicher, so hoch denke ich schon gleich gar nicht von dir“, blaffte der Dicke nur ärgerlich und wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel den Mund ab.
Der Zorn brannte weiterhin in seinen Adern, die am kahlen Schädel bereits hervortraten. Er war noch wütender auf seinen Lehrling als sonst. In einer willentlich energischen Geste fuchtelte er mit der fleischigen Hand in Richtung der Küche, dabei folgte die kleine Flamme, die heiter auf der Kerze brannte, brav der Bewegung des Luftzugs.
„Bring mir was zu saufen, Junge, ohne Alkohol halte ich dich jetzt nicht aus“, befahl die korpulente Gestalt ihrem Gegenüber in einem herrischen Ton.
Nickend machte sich der angehende Schmied, wenn auch etwas zögerlich, auf den Weg. Seine Schritten klangen leise auf dem Holz – ihm saß das unangenehme Gefühl im Nacken, dass der stechende Blick seines Herrn ihm beharrlich folgte. So war es beinahe Erleichterung, die er in seiner Brust fühlte, als er den Küchenraum sicher erreichte. Einen Herzschlag lang blieb er regungslos in der spärlich beleuchteten Stube stehen und drückte anschließend den eigenen schmalen Leib an die kalte Wand. Heute benahm er sich unterwürfiger als ohnehin schon, doch er fürchtete schlichtweg den Zorn des fetten Handwerkers. Und wenn der Schmiedemeister sich nicht bald wieder beruhigte… Beklommen besahen die eisblauen Augen die eigene linke Hand. Ja, dann würde er ihm auch kein Münze mehr für einen Heiler geben und vermutlich noch mehr Schaden anrichten.



Ungeschickt kam der dünne Rotschopf mit gleich drei ordentlich befüllten Flaschen in den knochigen Armen zurück in den Raum gestolpert. Sein Herr musterte ihn mit gesenkten Augenbrauen und knirschte laut hörbar mit den gelben Zähnen. Doch erst als der schlaksige Bursche am Tisch stand und vorsichtig seine Last ablud, zuckte der dicke Zeigefinger des gedrungenen Mannes hoch und deutete zittrig auf das eigene linke Auge, welches er provokant zukniff: „Wo hast'n deine Augenklappe, Hurensohn?“
Der Lehrling sah ihm nicht in das gerötete Gesicht, sondern konzentrierte sich lieber darauf, den Teller mit dem 'scheiß' Essen, das er selbst gekocht hatte, wegzuschieben und den Alkohol vorzubereiten. Unsicher mit den Schultern zuckend antwortete er nur: „Ich habe sie wohl verlegt, Herr.“
Da packte ihn die üppige Hand am Kragen seiner Kleidung und zog ihn mit einem kräftigen Ruck nach unten, sodass ihm der schmale Kopf schwungvoll auf den Holztisch knallte. Schwärze zuckte kurz vor seinen Seelenspiegeln auf, als der Schmerz auch schon in seinem Schädel aufflammte und er mühselig ein erschrockenes Stöhnen unterdrücken musste.
„Du kleiner undankbarer Scheißer! So belohnst du also meine Herzensgüte? Pass auf, Junge, jetzt erzähle ich dir was! Mach, dass du deinen Arsch dahin platzierst!“, der harte Griff des Schmieds lockerte sich, während er den jungen Mann vor sich mit einem eindringlichen Ruck gegen die Schulter in Richtung des hölzernen Stuhls ihm gegenüber, stieß.
Gehorsam befolgte Owen die Anweisung und ließ sich in seiner Erschöpfung und Müdigkeit auf den Platz fallen. Mit der rechten Hand hielt er sich den schmerzenden Kopf, zeitgleich verbarg die lädierte linke die entstellende Narbe in seinem Antlitz. Die dicklichen Finger seines Herrn machten sich eifrig daran, die Flaschen zu entkorken, damit dieser bald schon einen gewaltigen Schluck aus einer nehmen konnte. Unschicklich rülpste der Handwerker dem Verletzten entgegen und zog bei dessen erbärmlichen Anblick angewidert die Nase kraus.
„Vor langer Zeit, da warst du nicht mal geboren, hatte ich auch mal Frau und Kind. Bei den Sechs, was habe ich sie geliebt. Wir waren gerade erst frisch nach Götterfels gezogen und hatten kaum etwas“, begann der Schmiedemeister zu erzählen – seine Stimme wurde bei der Erwähnung seiner Familie tatsächlich etwas sanfter.
Mit dem speckigen Zeigefinger deutete er immer wieder auf den dünnen Kerl vor sich, als fordere er ihn zu äußerster Achtsamkeit auf. Dieser kannte die Geschichte allerdings schon. Jedes Mal bekam er sie erzählt, wenn sein Gegenüber volltrunken oder besonders wütend war – und heute traf beides zu.
„Meine kleine Rosa, die konnte vielleicht kochen – viel besser als du“, ohne ein weiteres Wort dazu schob ihm der korpulente Herr mit der fettigen Hand den Teller zu.
Der Rotschopf brauchte keine weitere Aufforderung, er kannte diese Geste. Und so begann der Schmale zu essen und der Dicke nahm einen weiteren Schluck von seinem Alkohol.
„Es fiel uns schwer in dieser Stadt Fuß zu fassen, die Konkurrenz war stark – erdrückend! Ja, wir verarmten regelrecht und das Geld reichte nicht mal, um auf Vorrat irgendetwas zu kaufen. Wir lebten von der Hand in den Mund“, fuhr der Fette fort, während er seine Hände auf dem voluminösen Wanst bettete und den Blick seiner kleinen fiesen Äuglein nachdenklich durch das Fenster in die alles verzehrende Finsternis der Nacht schweifen lies.
„Mhm“, stimmte Owen leise und mit vollem Mund zu, um Interesse zu heucheln.
„Aber dann kam dein Vater… Dieser adelige Crovellt und eröffnete mir die Möglichkeit, den 'Auftrag meines Lebens' zu erfüllen – ich müsse nur mit ihm drei Tage zu seinem Cousin reisen und ihm da irgendeine Sonderanfertigung machen. So 'ne zeremonielle Rüstung oder so'n Quark“, der anfängliche Sanftmut erstarb langsam in seiner Stimme, „und was er mir für 'ne Belohnung anbot – so viel Gold hast du in deinem armseligen Leben nicht einmal gesehen!“
In seiner Naivität zweifelte der Jugendliche an dieser Aussage nicht und sah sie als hieb- und stichfeste Wahrheit. Er hatte ja tatsächlich noch nie ein einziges Goldstück gesehen – geschweige denn mal in seinen dreckigen Händen gehalten – oder gar besessen!
„Ich hab' so gut wie nichts gegessen, damit meine Frau und meine Tochter für die drei Tage was hätten – versprach hoch und heilig, ich käme rechtzeitig wieder. Dann hab' ich mein Zeug gepackt und bin mit dem adeligen Scheißkerl gegangen“, kopfschüttelnd löste er die Finger aus der Verschränkung, um nach einer Flasche zu greifen, die er an die wulstigen Lippen führte und in den nächsten Zügen leerte.
Owen schloss kurz die schweren Lider und stellte sich den Mann vor, den man seinen Vater schimpfte. Nie hatte er ihn gesehen – und doch schien er durch die Erzählungen immer bei ihm und lebendig. Unbewusst senkten sich seine eigenen rötlichen Augenbrauen – konnte man jemanden hassen, den man nicht kannte? Ja.
„Der Weg war lang und beschwerlich – und was dann kam, war noch schlimmer! Ich habe ewig an der Rüstung gearbeitet, wollt's den adeligen Wichsern ja recht machen – und's hat ihnen nicht gepasst! Haben mich zusammengeschissen und angewiesen, 'ne neue zu bauen. Behandelt haben sie mich wie den letzten Dreck!“, die Stimme verhärtete sich immer mehr, fast wie eine aufkeimende Drohung, die dem Gegenüber galt.
Kaum dass die leere Flasche abgestellt war, griffen die schwabbeligen Hände nach der nächsten: „Keine Ahnung, wie lange die mich da nun festhielten, ihnen die 'perfekte Rüstung' zu schmieden – aber als ich schließlich den Geldbeutel bei mir wusste und zurück zu meinen Lieben kehrte, erreichte mich die Nachricht, beide wären schwerkrank von einem Einbrecher überfallen- und getötet worden.“
In den Zorn des Mannes mischte sich erstickender Schwermut. Der Lehrling fühlte vielleicht nicht den gleichen Schmerz, doch drückte ihm anderes Leid auf die Seele. Missmutig wandte er den Blick seiner blauen Augen ab und starrte in die helle Flamme der Kerze, welche absurd fröhlich weiter tanzte und die Stube tapfer davor bewahrte, in deprimierende Düsternis zu verfallen. Eine Weile lang schwiegen sich die Männer bekümmert an.
„Iss weiter, Junge“, wies der Dicke den anderen schließlich nach einer Ewigkeit leise an und durchbrach die Stille.
Aber Owen war satt.
„Jedenfalls...“, begleitet von einem unterdrückten Seufzen wollte der Schmied fortfahren – auch diesen Teil kannte der Bursche schon – doch fehlte seiner Stimme diesmal die diabolische Inbrunst, „dein Vater hat mich gezwungen, mein Versprechen zu brechen. Er ist schuld daran, dass Liese und Rosa tot sind. Er hat sie getötet. Aber die Götter wollten es nicht bei dieser Ungerechtigkeit belassen, also haben sie mir den Hurensohn des Mörders vor die Füße gesetzt, damit ich mich rächen konnte – aber!“
Aufmerksamkeit einfordernd hob er den fleischigen Finger und sein Lehrling wusste, dass er nun dran war, die Geschichte zu beenden. Zittrig schob er die Hände an die Tischkante, hob das Gesicht und sah seinem Herrn mit einem festen Nicken entgegen: „Aber Ihr, Herr, seid besser als mein Vater und habt Herzensgüte gezeigt und mich von dem Dreck der Straße geholt, um meinem Leben einen Sinn zu geben. Ihr gewährt mir Wärme, Nahrung, Schutz, Arbeit und Geld.“
Und obwohl Owen diese Worte oft sprach, waren sie für ihn nicht unehrlich, glaubte er selbst fest daran. Er zweifelte nicht einen Lidaufschlag an seinem Gegenüber. Zufrieden nickte der Trunkene.
„Gut, Hundesohn, ich sehe, du hast doch ein Hirn und verstehst was. Jetzt hör mir aber ganz genau zu, auch ich habe meine Grenzen und wenn du dich nochmal besoffen in den Gassen vor mir versteckst, breche ich dir weitaus mehr als nur deine Hand – so zeigt man seinem Herrn keine Dankbarkeit für dessen aufopfernde Güte.“
Der Rotschopf schluckte schwer, doch er nickte. Der Schmied hatte ja recht – was war er nur für ein niederträchtiger Bastard, dem Kerl so in den Rücken zu fallen? Ohne ihn wäre er selbst vielleicht schon auf den verdreckten Straßen elendig verhungert. Überlegend sah er auf seine linke Hand, während der Glatzköpfige ihn beobachtete und weiter trank.
„Ja, Herr, das wird nicht mehr vorkommen. Entschuldigt mein Verhalten, ich.. ich… weiß wirklich nicht, was ich mir dabei gedacht habe.“
„So ist's gut, Owen. Morgen geb'ch dir ein paar Münzen, dann gehst' zum Heiler.“



So ging er zum Heiler, erzählte von einem Arbeitsunfall und verbannte die Wahrheit, dass sein Herr ihm im Suff die Hand gebrochen hatte, aus seinem Verstand, wie viele andere Misshandlungen, die er über sich ergehen ließ und anschließend beschönigte.


Erst viele Jahre später drang jemand erstmals in den geschundenen Geist ein und hinterließ dort aufkeimende Zweifel.

Kommentare 9