Allein gegen Orr


"Was ist...noch übrig...?"
"Hm?" Jaroyesh blickte auf, schaute sich müde um. Da, ein beinloser Untoter kam auf sie zugekrochen.
Den hatte sie übersehen. War wohl der Gruppenkrüppel. Die kamen immer etwas später, wenn der Kampf schon vorbei war.
Die Reckin pickte die fast aufgerauchte Nornzigarre aus dem Mund und schnaubte, nahm den letzten Schluck Korn. Sie erhob sich langsam von der Sitzgelegenheit, die sie aus einer Kiste und einer alten Decke geschaffen hatte. Träge hievte sie die schweren, gepanzerten Beine von einem verotteten Hocker. Völlig verdreckt, besudelt mit Schlamm, Ruß und den Überresten der Orrianer.
Ihre ganze Rüstung war auf diese Weise verziert, ebenso ihr Gesicht.
Was ist noch übrig?
"Du...gute Frage. Das weiss ich nicht.", antwortete sie der kriechenden Leiche schließlich, schüttelte den Kopf. "Keine Ahnung, echt."
Die Frage stimmte sie irgendwie nachdenklich. Als sprächen sie aneinander vorbei – nein, sie sprachen ja tatsächlich aneinander vorbei – stellte er wieder die gleiche Frage.
"...was ist...noch übrig..."
"Das frag' ich mich ehrlich gesagt auch manchmal.", bemerkte sie.
Er kroch weiter.
"...oder meinst du was von dir übrig ist?"
Roy besah ihn sich. Er trug ein verrottete, schmutzdurchtränkte Weste. Keine Haare, Nase, Lippen oder Augen waren übrig. Nur mit den dünnen, vertrockneten Armen schob er sich voran.
Sie waren sich alle so ähnlich, aber jeder war ein Einzelstück.
"...ist nich' mehr so viel übrig von dir....tut mir Leid.", teilte sie ihm die traurige Wahrheit mit.
Und es tat ihr kein bisschen Leid, aber das musste er nicht wissen.
Schweigen, Schlurfen, Kriechen.
"Oder meinst du was..." Sie blickte sich um. "...überhaupt noch so übrig ist?"
"...was...was ist..."
"Hier in Orr meint man fast, die Welt wär' zuende, nich'?"
"...übrig, was..."
"Kann man sich kaum vorstellen, dass da irgendwo noch die Sonne scheint und Blumen blühen, oder?"
Er schob sich näher. Würde ewig brauchen.
"Du regst einen ja echt zum Nachdenken an. Warst du mal Philosoph?"
Sie bemerkte eine gewisse Aufrichtigkeit und Interesse in ihrer Stimme. Endlich mal ein gutes Gespräch hier in Orr.
"Was ist...übrig...", begann er wieder.
Stimmt, er hatte ja keine Augen mehr. Sie musste ihm beschreiben was man hier sah. Was übrig war.
Sie blickte über die Schulter.
"Ein lebloser Küstenabschnitt....paar fette Seeigel...eine Engelsstatue im Dreck..."
Sie war den Strand hinabgelaufen, immer weiter in den Süden. Jede Spur von Cranguz oder den Norn war von der Horde niedergetrampelt worden. Wo auch immer sie waren, sie hatte nicht das Bedürfnis sie bald wieder zu sehen.
"Ich sitz' hier in einem kleinen Zelt vom Gerüchteorden. Irgendwo alleine im Niemandsland.", erzählte sie dem untoten 'Philosophen'.
"Mit einer winzigen Schlafmatte drin, war wohl einem Asura. Weisst du eigentlich was ein Asura ist? Hattet ihr Asura in Orr?"
Keine Spur vom Asura, außer einer stumpfen Axt, die in einem alten, verkrüppelten Schößling steckte. Der Bewohner des Lagers hatte Feuerholz für einen Scheiterhaufen gesammelt.
"Die sind klein, haben große Ohren und reden viel. Wissen alles besser."
"...übrig...übrig...übrig..."
"Und da hinter uns brennt ein Scheiterhaufen. 'Paar von deinen Leuten liegen drin. Vielleicht zehn Stück? "
"...Tod...kommt..." Der Orrianer kroch weiter auf sie zu.
Vielleicht hätte sie das mit dem Scheiterhaufen nicht sagen sollen?
Außer den knisternden Flammen, dem Meeresrauschen und den unaussprechlichen, quäkenden Geräuschen, die man in der Ferne Orrs so oft hört, war es sehr still.
"...kommt...Tod...kommt..."
"Aye, irgendwann erwischt's jeden..."
Sam zum Beispiel.
"...kommt...Tod...wenn er..."
Sie wartete, bis er ausredete, aber da kam erst mal nichts mehr. Vielleicht hatte Spaxx recht. Vielleicht konnte man sich ja mit ihnen unterhalten, wenn man sich genug Zeit nahm. Jetzt war die Gefahr nicht akut. Hätte man sich zweihundert Jahre früher getroffen, man hätte sich vielleicht angefreundet.
"Was hast du sonst gemacht? Also vor all...dem hier?" Sie deutete in Richtung des flammenden Leichenberges.
Er kroch weiter.
"Kannst du nicht wenigstens deinen Beruf sagen? Einen Namen, Titel?"
Er schwieg und robbte weiter.
Sie hustete, es kratzte sehr im Hals. Das lag vielleicht an der Zigarre. Vielleicht aber auch daran, dass die einzige Flüssigkeit, die sie seit langem zu sich genommen hatte, eine halbleere Flasche Korn war.
"Doch, bestimmt. Ein Philosoph warst du, weil man dich schwer versteht.", schätzte sie und lachte trocken auf.
"...was ist...übrig.."
"Sag' halt irgendwas, 'Übrich der Philosoph', oder ist das zu viel verlangt?"
"Es beginnt....", keuchte er nur.
"Wer warst du?"
Keuchen.
"Wer bist du?"
Scharren. Ihre Geduld sank.
"Wer...warst du?!"
"...mehr..kommen...es.."
"Ich bin Jaroyesh. Ich hab' am Hafen gearbeitet, bis deine Freunde nach Löwenstein kamen und..."
"...beginnt...!", unterbrach er sie aggressiv, schlug mit dem Arm in ihre Richtung.
Sie schnaubte nun wütend und stampfte mit ihren Panzerstiefeln auf ihn zu.
"Kein Grund zum Plärren, werter Herr!", kam es gereizt.
"...Tod kommt, wenn er...erwacht...was ist übrig...wenn er...erwacht...!"
Sie trat ihm den Arm weg, als er wieder zuschlagen wollte. Ein Splittern, ein Schmatzen.
"Rede MIT mir! Genug von deinen...Phrasen jetzt! Rede! Jetzt!!"
Er schwieg wieder.
"Und schau' mir dabei in die Augen!!", brüllte sie nun, frustriert pfefferte sie die leere Flasche auf seinen Rücken und begann mit ihren Panzerstiefeln auf das rottige Fleisch einzutreten.
Ratsch, hack, knack.
Raus mit der Wut, rein mit dem Stiefel.
Rein mit dem Stiefel. Raus mit der Wut.
Er schwieg.
"Was ist los mit euch Viechern?!?"
Was war nur los mit ihnen...
"...alle töten...", stöhnte er dann.
Da hielt sie inne in ihrer Rage...
"Genau das!", fauchte sie.
"...das...", keuchte er. Die verbogenen, verkrümmten Wirbel traten ihm nun durch die zerfetzte Weste, die zebrochenen Rippen steckten im Matsch, hinderten ihn am Vorankommen.
"Genau das! Da sprichst du meine Sprache du rottiger Madensack!!"
"...wenn...alle töten...wenn..", keuchte er.
"ALLE töten, genau das mach' ich mit euch Scheißtypen!"
Sie packte ihn am Kragen, hob ihn langsam vom Boden, schnaubend stampfte sie auf den Scheiterhaufen zu und zog sie ihn hinter sich her, er zappelte. "...was ist übrig..!"
"Was ist übrig? Asche, ASCHE ist gleich noch übrig!!"
Als sie vor dem Haufen angekommen war, griff sie ihn an den dürren Handgelenken, drehte sich einmal torkelnd um die eigene Achse und schleuderte ihn mit sich, wie ein kleines Kind beim Spiel. Dann ließ sie ihn los, ins Feuer, zu den anderen Pennern.
"Kreihaannhuu...!!!", oder deratiges rief das Wesen wie unter Schmerzen, als es aufprallte und Feuer fing.
"Wie war das?!" Sie schritt auf den Scheiterhaufen zu. Er wühlte noch etwas in den Leibern, bis die trockene Haut knisterte und glühend begann zu zerfallen.
"WAS hast du gesagt??" Sie zog ihn wieder heraus, Funken umsprühten sie, kitzelten ihr Gesicht. Sein Leib war verbrannt, erlöst, er zuckte nicht mehr.
Was hatte er gesagt?
War das sein Name, oder ein anderer?
Oder doch nur wirres Zeug?
Sie würde nie erfahren, was er da gebrüllt hatte.
"Geschwätz...", murmelte sie und ließ sich erschöpft vor dem Scheiterhaufen in den matschigen Sand sinken, sah den Untoten eine Weile beim Brennen zu.
Ein Gedanke an Sams letzten Anblick, ein kurzes Erschaudern.
Sie brannten lange.
Wenn sie eins drauf hatten, dann brennen. Zu Asche würden sie alle werden. Das war der Weg der Wachsamen, Orr zu reinigen. Bäumchen pflanzen konnten die anderen.
Vielleicht direkt in die Asche?
Vier Untote hatte sie reingelegt in den Haufen, der Rest stammte wohl vom mysteriösen Asura. Die erste Leiche hatte sie noch nach Schätzen durchsucht, dann aufgehört. Wozu denn diesen ganzen Wert anhäufen? Damit der, der dann irgendwann ihre eigene Leiche plünderte, weniger Arbeit hatte?
"Ihr macht mich echt fertig, wisst ihr?", brummte sie und fischte sich die Kornflasche heran. Leer, immer noch. Sie feuerte sie in den Flammenberg. "Ihr Scheißtypen. Ihr Jammerlappen..."
Übrich der Philosoph, oder wie immer er hieß, lag verkohlt neben ihr. Leere, verkohlte Augenhöhlen starrten zu ihr hinauf, der Mund weit geöffnet. Jetzt sah sie es, am nun verknöcherten, rußschwarzen Ringfinger, ein Aufglänzen. Sie drehte den Finger wie einen Ast aus einem Strauch und zog den Ring ab, spuckte darauf, säuberte ihn.
War das Orichalkum?
Sie hatten viel Orichalkum hier.
Ob man es nach Orr benannt hatte?
Oder ob Orr nach dem Orichalkum benannt war?
Unwichtig, als sie den Ring gesäubert hatte, fiel ihr eine Inschrift auf der Innenseite auf. Es musste ein Ehering sein. Jetzt müsste sie nur noch jemanden finden, der Orrianisch verstand. Farlif bestimmt, falls noch irgendwas von ihm übrig war. Bestimmt standen hier zwei Namen, von denen einer dem Untoten neben ihr gehörte.
Übrich und Nichts?
"Na bitte, danke, alles vergeben.", brummte sie.
Sie kam wieder etwas herunter.
Fast versöhnlich tätschelte sie seinen Kopf, die dünne Aschenschicht brach ein, hinterließ einen Krater in der Schädeldecke.
Sie drückte ihre Zigarre hinein.
Die Ruhe hielt nicht lange.
Schon bald hörte sie wieder altbekanntes Geschwafel in der Ferne. Und es kam näher. Das war nicht Cranguz Geprahle, das waren Übrichs Freunde. Natürlich, sie war zu laut gewesen und hatte welche angelockt.
Schön für sie.
Rauf auf den Haufen mit euch!
Einer nach dem anderen...
Einmal mehr erhob sie sich also, um gegen die endlosen Horden anzutreten.
Sie zog das stumpfe Beil aus dem Baum, hakte es ein.
Die ersten waren aufgetaucht. Von hier unten konnte sie etwa ein Dutzend Silhouetten erkennen, die da an der Hügelkette in ihre Richtung schlurften.
Roy grunzte und setzte sich den Helm auf. Sie hob den Schild vor sich, den Streitkolben in der Rechten. Es war eine gute Waffe. Man musste sie nicht schärfen. Hier nutzte sich alles sehr schnell ab, aber auf das grobe Ungeheuer in ihren Händen konnte sie sich verlassen. Und vor allem fraß es keine Munition. Das machte sie unabhängig. Cranguz hätte mit seinem Gewehr vielleicht schon welche niedergestreckt. Aber deswegen war er auch so ein weiches Plüschungeheuer und inzwischen bestimmt selber untot.
Fettes ranziges Fellknäul.
Geschieht ihm recht.
Nochmal zwei Silhouetten kamen dazu. Wieder eine. Wie viele mehr da hinter dem Hügel lauerten, zu ihr wollten?
Wieder weglaufen? Sie war zu müde immer wieder wegzulaufen.
Sie würden sie bis ans Ende Orrs verfolgen, selbst ins Meer hinein.
Alles hier war gegen sie, wollte sie töten. Sie kämpfte gegen ein ganzes Reich.
Nicht nur gegen die orrianische Armee, wie in einem Gildenkrieg.
Jeder Stadt- und Dorfbewohner, jeder verlorene Paktkämpfer.
Die Krait und Quaggan aus den Meeren.
Selbst die Tiere. Jedes Schwein, jedes Huhn, jedes Mäuschen, jeder Fisch.
Und sogar die beschissenen Piraten mit ihren lächerlichen Trottelkostümen...
So viel zu tun.
Unendlich viel.
Irgendwann musste sie sich ihnen also stellen, wenn auch nur um zu sterben.


Roy suchte den trüben Himmel ab. Ob nicht vielleicht doch ein Luftschiff erschien, im letzten Moment, um sie zu erretten?
Mutige Burschen in glänzenden Rüstungen, mit donnernden Kanonen und scharfen Klingen. Ein dröhnendes Kriegshorn, stampfende Schritte, ein Grollen, dass die Feindhorden unter sich begrub, Schlachtenrufe und siegreiche Fanfaren.
Aber eigentlich war es ja ihre Aufgabe, die Hoffnungslosen in letzter Sekunde zu retten.
Und wenn es sonst keine Hoffnung mehr gab, wandten sich viele Menschen an die Götter.
Sie sah zu dem gefallenen Engel, der am Strand lag. Eine große Statue, Dwayna.
Eine Göttin.
Sie hatten hier gelebt, die Götter?
Sam hatte zu ihr gebetet, Dwayna hatte ihr Hoffnung gegeben.
Jetzt war Sam Asche im Wind.
Aber vielleicht würde Dwayna ihr ja helfen? Einen Moment blickte Roy hoffnungsvoll zu der Gestalt. Ob sie sich vielleicht erhob, die Flügel wieder ausbreitete. Die Untoten mit heiligem Licht verbrannte und Roy einen güldenen Kranz um den Kopf zauberte, sie zu ihrer Heiligen machte.
Aber nichts passierte.
Vielleicht half Dwayna nur Blonden?
"Wenn es euch wirklich noch gibt...", schnaubte sie, spuckte aus. "Wie könnt ihr euch von denen so dermaßen ans Bein pissen lassen??" Sie nickte gen Himmel. Ständig schwebten dort irgendwelche Drachen durch die Lüfte. Kackten von oben auf das große, heilige Orr. Wenn untote Drachen denn kackten.
Was für ein erbärmliches Denkmal Orr für die Götter war...
Wie hatte Farlif gesagt?
Eine sterbende Religion?
Noch ein letzter Blick zu Dwayna.
Keine Rührung.
Dwayna blieb liegen.
Dwayna war tot.
Genauso tot wie Sam.
Bleib' einfach da wo du bist, Engelchen, dachte Roy und wandte den Blick ab.
Man musste hier alles alleine machen.
Inzwischen waren es vielleicht zwei Dutzend von denen.
Da half nur rohe Gewalt.
Royale Gewalt.

Kommentare 9

  • So, ich hab' mir heute unterwegs alle Kapitel über Smartphone reingezogen. *g* Und ich kann nur sagen, dass ich hellauf begeistert bin. Deine Fertigkeiten im Storytelling sind ganz große Klasse, ich bin da echt ein bisschen eifersüchtig drauf. Stellenweise natürlich satirisch angehaucht, aber das verleiht dem Ganzen irgendwie gerade erst den nötigen Ernst. Wie du das Kriegsszenario einfängst, die Abgründe und Charakterzüge der einzelnen Personen in unglaublich wenigen Sätzen unglaublich greifbar zeichnest, und das alles trotz sehr makaberem Ton 1A in die GW-Welt eingebettet (vermisse ich bei vielen anderen guten Schreibern häufig) ...was soll ich sagen. Einfach genial. Du bist klasse.

    • Danke, du, das erwärmt meine Ketzerherz ungemein! Freut mich vor allem, dass es wohl glaubwürdig in die GW-Welt passt. Das wird irgendwie immer schwerer zu beurteilen, je mehr man seine eigene Welt darin formt....Dann kannst du ja nun langsam beginnen Spaxx in deine Story einzupflegen.

    • Yep! Sofern ich alsbald dazu komme, mal was über Zelek zu schreiben

  • Ich mag deine Geschichten. Weil sie Bilder malen. Toll.

  • Noch zwei dazu! Durch die Zeichnung hatte ich direkt ein Bild der Szenerie im Kopf. Sehr fein!

    • Danke! Wobei die Zeichnung sich eher auf die nächste Geschichte beziehen wird, Übrich hatte noch einen Kiefer! Aber Roy sah so aus, ja.

  • Orr verändert einen...
    musste da grad an deinen Satz denken und ja - tut es.


    super Geschichte, sie hat mir grad meinen Morgen gezuckert.
    Übrich der Philosoph von dem nichts mehr “übrich“ ist am Ende ;)
    Hat mir viel Spaß gemacht beim Lesen.Hatte direkt Bilder im Kopf von der kreischenden Roy.
    Vllt sollte Cait bei Roy mal in Kampfkunde kommen, oder in sowas wie “Orr und was von übrig ist“
    Beide Daumen hoch jedenfalls!!!

    • Danke, freut mich!


      Und ja, die Novizen auf Vordermann bringen steht noch aus.
      Auch zu empfehlen: "Was vom Orrianer übrig blieb." mit Anthony Hopkins.