Fortsetzung

Arlassia saß mit angezogenen Knien im Unterschlupf von Finn. Seit einem Jahr war sie jetzt hier und der Junge hatte ihr eine Menge beibringen können darüber, wie man auf der Straße zurecht kam. Nun aber saß sie den dritten Tag allein in der kleinen Hütte und Finn kam einfach nicht zurück. Das war nicht seine Art. Er kam immer zurück. Das Mädchen sorgte sich um den frechen Burschen, der ihr ein großer Bruder geworden war. Arlassia erinnerte sich an ihren ersten gemeinsamen Tag.


"Guck Kleine. Hier wohnste nu." hatte er damals zu ihr gesagt, als er sie zu einem kleinen provisorisch errichteten Verschlag geführt hatte. Dort war alles verbaut worden, was er finden konnte und so war eine kleine, völlig windschiefe Schlafstätte entstanden. "Ich bring dir alles bei was de wissen musst. Sonst biste bald tot." So oft wie er das wiederholte, machte er dem Kind eine Wahnsinnsangst. Natürlich war es Absicht von dem Burschen mit der Zahnlücke. Er hatte Spaß daran, sich vor dem kleinen Ding ein wenig aufzuspielen.


Das dünne Lockenköpfen hatte Hunger. Den letzten trockenen Kanten Brot hatte sie am gestrigen Tag gegessen und jetzt bohrte sich dieser gemeine Schmerz in ihren Magen. Eigentlich war der Hunger ihr ständiger Begleiter und sie hatte sich an ein gewisses Maß gewöhnt. Nun wurde er aber immer lauter und wütender und das kleine Mädchen immer unruhiger. Er hatte ihr gesagt, sie sollte hier bleiben und auf ihn warten. Arlassia tat immer das, was Finn ihr sagte. Sie bewunderte den Knaben und sah zu ihm auf, denn er kümmerte sich um sie und er wusste doch so viel. Er hatte ihr gezeigt, wie man lange Finger macht. Er hatte ihr gezeigt, wie sie möglichst bemitleidenswert aussehen sollte, um ein paar Münzen zu erbetteln. Sie hatte diese Niedlichkeit, die ihm langsam entwachsen war und somit profitierten sie voneinander. Er zeigte ihr, wie sie schnell unsichtbar werden konnte, falls man sie beim Stehlen erwischen würde. Jeden Winkel in den Gassen hatte er ihr gezeigt und erklärt welche Gemüsehändler und Bäcker ihre nicht mehr verkäuflichen Waren an die Schweine verfütterten und auch, daß sie sich nicht ertappen lassen sollte, wenn sie den Schweinen das Fressen wegnahm. Auch von den Schweinen nicht, die ihr Futter nicht gern hergaben. Und dann zeigte er auch die Straßen von denen sie sich fern halten sollte, da sie das Revier einer Bande waren. "Die brech'n dir de Fingerch'n!" hatte er erklärt und sie warnend dabei angesehen.


Aber jetzt kam Finn nicht wieder. Sollte sie im Unterschlupf bleiben, oder ihn suchen gehen? Das Mädchen haderte mit sich. Einerseits wollte sie es richtig machen, andererseits war der Hunger so schlimm und die Angst wuchs in ihrem kleinen Herzen. Was ist, wenn er sie auch allein gelassen hatte? Die Kleine rappelte sich auf die Füße und wischte ihre Hände am viel zu weiten Hosenboden ab. Die Kleidung hatte der Junge für sie gestohlen und sie würde noch eine Weile in die Sachen passen, weil sie mindestens zwei Nummern zu groß für das zarte Mädchen waren. Sie hielt das Beinkleid mit einem Stück Strick dort, wo es hingehörte. Schnell war ihr Bündelchen geschnappt und dann machte sich die Sechsjährige auf die Suche nach Finn.


Die Tage und Wochen verstrichen und ein dunkel gelocktes Mädchen trottete mutlos durch die vertrauten Gassen. Keine einzige Spur von Finn und auch kein Anzeichen dafür, daß er zwischendurch beim Unterschlupf gewesen war. Sie stahl sich gelegentlich Lebensmittel und hatte mittlerweile beschlossen es auch mal mit den Geldbeuteln der rechtschaffenen Bürger zu versuchen. Für ihre Bettelversuche hatte sie nur Tritte geerntet oder war sogar bespuckt worden. Die Kleine war verzweifelt, aber Tränen hatte sie keine mehr übrig. Nicht einmal für ihren zerschundenen Rücken, der sich langsam in der Abheilung befand. Sie wurde aber immer geschickter, so daß es seit diesem unschönen Vorfall mit dem Riemen des Besoffenen keine Schläge mehr gesetzt hatte.


Sie stand in einer Ecke auf dem Marktplatz und das Augenblau musterte aufmerksam das Geschehen. Arlassia schätzte die Lage, teilte die Menschen in Kategorien ein. Sie war auf der Suche nach einem Opferlamm, welches sie um dessen Geldbörse erleichtern konnte. Der Kerl dort am Gemüsestand sah aus, als wäre er nicht ganz Herr seiner Sinne und das Mädchen beschloss... er sollte es sein. Sie drückte sich von ihrem Beobachtungsposten weg und huschte im Schutz der Marktstände zu ihrem Ziel.
Es ging alles so schnell. Seine große Hand, die ihr dünnes Gelenk umschloss, sein drohender Blick aus dunklen Augen, das wütend anmutende Knurren seinerseits und die Hand die sich zum Schlag bereit erhob. Arlassia wurde dem allem gewahr, kniff die Augen zu in Erwartung des sicher scheinenden Schmerzes, doch es geschah nichts. Sie spürte immer noch seine Hand, die sie festhielt aber er schlug sie nicht. Warum nicht? Die Kleine öffnete vorsichtig erst nur eines der blauen Augen, dann das andere und blickte mutig zu dem Mann hoch. Zu ihrer Überraschung schmunzelte dieser große Mann mit dem lichten grauen Haar und das einzige was er sagte war: "Hast noch ne Menge zu lernen, Löckchen. Komm." Da er den Griff um ihr Handgelenk nicht löste, blieb ihr nicht viel, als ihm zu folgen.


Arlassia hatte Gerald gefunden und ein neuer Abschnitt im bisher kurzen Leben des Mädchens sollte beginnen.

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