Neun Jahre

Neun Jahre hatte sie bei Gerald gelebt. Bei Gerald und Adele. Wie beschrieb man dieses seltsame Paar? Arlassia stiefelte den Weg vom Galgenhügel zurück in die Stadt und hing ihren Gedanken und Erinnerungen nach. Sie ließ Gerald somit hinter sich. An dem würden sich nur noch die Krähen gütlich tun und so erfüllte er zumindest tot einen guten Zweck. Zu Adele würden sie keine zehn Pferde zurück kriegen. Natürlich… sie hatte beiden eine Menge zu verdanken, aber nicht nur Gutes.


Die ersten Jahre waren fast wie in einer richtigen Familie. Zumindest war es das, was das kleine Mädchen sich darunter vorstellte. Adele war gebildet und wusste dem Mädchen das Lesen, Schreiben, Rechnen und Handarbeiten beizubringen und mit ihren sechs Jahren verwunderte es das Lockenköpfchen nicht, daß eine Straßendirne dazu in der Lage war. Sie musste mal eine sehr schöne Frau gewesen sein, doch der Zahn der Zeit und der übermäßige Alkoholkonsum hatten ihre Spuren auf dem drallen Weib hinterlassen. Das braune Haar war von einigen Silbersträhnen durchzogen, das Gebiss der Guten ließ auch zu wünschen übrig und ihr Hintern machte dem eines Ackergauls harte Konkurrenz. Das erklärte auch die Auswahl ihrer Freier. Einzig die zweifarbigen Augen waren etwas, das an dieser Frau noch faszinieren konnte. Eines war blau, das andere braun. Sie schätzte auch das Alter des Mädchens und lag damit so nah an der Wahrheit.Viel später erfuhr Arlassia , daß Adele einst aus sehr gutem Hause stammte und dort in Ungnade gefallen war. Weshalb wollte Gerald ihr nicht verraten, aber das erklärte weshalb sie dem Kind Unterricht geben konnte.


Arlassia schlurfte ziellos durch den Regen und kickte einenStein vor sich her. Sie hatte noch keine Ahnung was nun werden sollte, aber für ein paar Tage in einer billigen Absteige würde es erstmal reichen. Wieder schweiften die Gedanken zurück in die Vergangenheit.


Gerald war nicht nur ein Dieb, ein Spieler und ein Säufer. Er hatte seine Finger in allerhand schmutzigen Geschäften. Zuhälterei war eines davon. Was auch immer dieser alte Stinkstiefel mit dem schütteren Grauhaar, der sonnengebräunten Haut und den recht harten Gesichtszügen in Arlassia sah, es schützte sie davor das gleiche Schicksal wie Adele zu erleiden. Er schickte das Kind zwar zum Stehlen und Betteln, doch niemals auf die Straße zum Anschaffen. Wenn er ihr am Abend Geschichten erzählte, waren die nicht unbedingt kindgerecht doch das war das ganze bisherige Leben der Dunkellocke nicht. Wenn er betrunken die Hand erhob, niemals gegen das Kind, immer hatte Adele die Prügel einzustecken. Zumindest hatte er Arlassia bald so weit, daß sie über dem Markt lief und den Leuten unbemerkt und geschickt die Taschen leeren konnte. Sie gab auch immer brav alles ab und ermöglichte dem sauberen Paar so täglich eine zusätzliche Flasche Schnaps.


Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen und Arlassia stand ziemlich durchnässt an der alten Stelle, an der sie das erste Jahr mit Finn verbracht hatte. Wo auch immer der Junge mit der Zahnlücke hin verschwunden war, sie würde ihn nie vergessen. Die ganzen Jahre hatte sie immer wieder an ihn denken müssen, er der ihr ihren Namen gegeben hatte. Jetzt kamen die Tränen. Sie weinte um Finn. Nicht um Gerald, nicht um sich, nur um den Jungen mit dem weizenblonden Haaren. Nachdem die Tränen versiegt waren, verließ sie den Platz am Einsturz und wanderte weiter ziellos und mit den Gedanken in der Vergangenheit umher.


Gerald und Adele veränderten sich mit den Jahren zusehends. Die Haut der beiden wurde fahler und gelblich, die Zähne faulten und die Gesichter wirkten teigig und aufgeschwemmt. Gerald hatte eine richtige Wampe bekommen und er stank erbärmlich. Er hatte keine Nutten mehr auf der Straße und die Zeiten in denen er etwas zu Sagen hatte waren längst vorbei. Arlassia war die Haupteinnahmequelle geworden und wenn sie am Abend von ihren Diebestouren in die stinkende Bude kam war es nicht selten, daß sie über die besoffenen und schnarchenden Körper der beiden steigen musste um zu ihrem einfachen Lager zu gelangen. Die erste Zeit hatte sie noch versucht, die beiden in deren eigenes Bett zu verfrachten, doch das gab sie recht schnell auf.


Sie fror. Der Regen hatte wieder eingesetzt und sie war durch bis auf die Haut. Arlassia betrat eine kleine Absteige und nahm sich eines der günstigen Zimmer dort. Hier wollte sie erstmal bleiben und dann weiter sehen. Gerald war nicht mehr, Adele würde ihm bald folgen. Bedauerte sie, daß er am Galgen gelandet war? Nein. Er hatte es verdient.


Sie hatten ihn irgendwann in den frühen Morgenstunden aus der Bude geholt. Sie erinnerte sich ganz genau an die gerümpfte Nase des Seraphen der das Kommando hatte, an das lallende Geschrei von Adele und an die Gegenwehr, die Gerald versuchte zu leisten. Arlassia hatte versucht ganz unauffällig in ihrer Ecke zu sein, aber der Blick voller Abscheu der sie traf brannte sich in ihr Gedächtnis.
Als sie Gerald hängten, war sie sich nicht mal sicher ob er überhaupt wahrnahm, daß sie dort stand und zusah. Seine Augen waren leer und ohne eine Regung in seinem Gesicht ließ er sich die Schlinge umlegen. Sie würde niemals erfahren, warum er sie damals mitnahm. Es war aber auch nicht mehr wichtig.


Arlassia zog die nassen Kleider aus und schlüpfte in das gemietete Bett. Wieder hatte ein neuer Abschnitt im Leben des Mädchens begonnen.

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