Rohrstock

Zehn Finger ruhen an der kühlen Glasscheibe, der eigene Atem wirft kleine Nebel an eben jene und die grünen, Farn in ihrer Farbe gleichenden Augen verfolgen zwei spielende Kinder zwischen den Stallungen des Anwesens. Die Wangen der Spionin sind rot vor Aufregung, die Füße auf die Zehenspitzen gestellt unruhig, wackelig und die Zähne graben sich in weiche Kissen eigener Lippen. Wie gern wäre sie dort unten, spricht die Miene des Mädchens, wie gern würde sie auch mit dem Stock den Metallreifen jagen und wie gern so lachen, wie die zwei Leben dort unten. Es wird schwerer sie zu beobachten und so drückt sich auch die kleine Nase an die Scheibe, versucht weiter um die Ecke zu schauen, als das Glas ihr überhaupt erlauben möchte und scheitert daran, weil eben jene, die so unbeschwert sein können, aus ihrem Blickfeld verschwinden. Ein Seufzen, noch weiter versuchen sie doch noch einmal zu sehen und so vergessen wachsam zu bleiben, zieht der erste Schlag auf ihren Rücken unter dem Kleid ihre Aufmerksamkeit so rasch herum, dass sie gar auf dem Hosenboden landen würde, trüge sie nicht ein Kleid. Weiter Unterrock und schwerer Überstoff ihres Kleidung verbirgt gar die Gestalt des jungen Mädchens, welches noch über für ihr Alter charakteristische Speckärmchen verfügt „Au..“ entkommt ihr und dann schon wieder Stille, während sie sich auf die Füße bringt. Vor ihr steht sie, finster dreinblickend, mit grauem Knoten am Hinterkopf und in Witwenschwarzer Kleidung mit grauen Abnähern, ihre linke Hand hält das untere Ende des auserkorenen Kindesfeindes, die rechte den oberen Bereich und der Rohrstock wird ein wenig gebogen. „Faye Evoletta, was ist die erste Benimmregel für junge Damen in der Gesellschaft?“ „Zu jeder Zeit muss einem die eigene Haltung bewusst sein. Stehe und sitze immer gerade, achte auf deinen Rücken, lasse niemals die Schultern hängen, denn dies ist ein Zeichen von schlechtem Benehmen und Faulheit.“ entkommt der Vierjährigen klar als wäre sie selbst bereits in die Gesellschaft eingeführt worden, wenn da nicht das leichte Lispeln wäre, was die ein oder andere Zahnlücke im Mund hervorrief. Schwerlich rappelt sie sich auf die kleinen, in feinstes Leder gebundenen Füße, die schon in diesen jungen Jahren Absätze ertragen müssen. Absätze, welche ihr das Leben erschwerten, hinkte sie doch von Geburt an und wurde Tag um Tag darauf hingewiesen zu lernen diese Unart endlich abzulegen. Eine angeborene Unart, kein Wesenszug, keine willentliche Entscheidung, ein Unding trotz aller Bemühungen.


Faye strich den Rock im Stehen wieder gerade, es brannte grässlich im Kreuz und hinter ihr an der Scheibe verloren sich noch Reste von Nasenspitzenabdruck und Fingerspuren, sehr zum Unwillen der Anstandsdame und Lehrerin vor ihr. „Die zweite Benimmregel.“ „Achte darauf immer gepflegt zu sein. Das Haar muss ordentlich sein, die Haut niemals nach einem selbst riechen und die Fingernägel ohne Ränder oder Schäden. Keine Flecken auf der Kleidung sind zu dulden. Eine Dame von Stand trägt niemals zu viel künstliche Farbe im Gesicht.“ entkommt es ihr und dem Schrecken nah ballen sich kleine Fäustchen in der Nähe des Rockstoffes in grausiger Erwartung der nächsten Frage. Das Kinn sinkt, die Schultern folgen der Rührung und die Dame mit dem Stock wird aufmerksamer und nutzt jenen das Kinn des Mädchens wieder zu heben als wäre er ihr verlängerter Arm und dies beinahe noch in mütterlicher Regung „Zeigt mir eure Nägel, habt ihr wieder daran gekaut?“ ein Zittern trägt sich durch den Leib des Mädchens, die Lippen pressen sich fest, nun nicht mehr in Neugier sondern Angst, aufeinander und selbst wenn sie es wollte, sie konnte nicht sofort die Finger strecken. Zu sehr lähmte sie die Erwartung der Strafe, zu sehr pochte das Herzchen in kindlicher Brust, die doch inbrünstig danach sehnte zu spielen und zu lachen, einen Reifen vor sich her zu schicken. Doch sie stand hier, war nicht dort und sie wusste was geschah. Allen Mut hervorgebracht von schierer Panik ließen sie letztlich die Hände heben und die kleinen Wurstfinger strecken. Ein Bild, welches die Hauslehrerin bereits erwartete; angekaute Nägel, eingerissene Nagelhaut zitternden wie Espenlaub im Wind sind die Finger. Schwere Atemzüge füllen Augenblicke des Verharrens und beanstandet werden „Wie oft hat die junge Baroness bereits gesagt bekommen dies sein zu lassen und hört sie darauf?“ „Sehr oft und nein, Fräulein Zerath.“ entkommt dem leisen Stimmchen und kindliche Tränen der erwartungsvollen Angst spiegeln sich in den Augen wider. Mehrmalig treibt der Stock die Schläge über die Finger und immer wenn Faye sie fortziehen wollte, schlug die Anstandsdame einmal mehr zu. Dies mit faszinierender Perfektion Schmerzen zu bringen, aber die Haut nicht unschön weit aufplatzen zu lassen, sondern ihr nur brennende Striemen ohne Narben zu bringen. Kleine Wunden kamen dennoch immer und ein Wimmern von den Lippen des Kindes ebenso. So gut erzogen sie war, so kindlich ist sie noch und kann nicht aufbegehren gegen Schmerzlaute und dicke Tränen auf runden Wangen. Ihre Wunden wurden hernach in Essig gebadet, wie sie es auch mit den Nägeln an jedem Morgen machen musste. In der Hoffnung der Anstandsdame, dass der widerliche Geschmack Faye irgendwann abhielt an den Nägel zu kauen. Die Wahrheit war jedoch eine andere, denn der unaufhörliche Kreis aus Strafe, Benimmregeln und Kinderseele führte zu jenem unschönen Verhalten immer wieder. Denn je mehr man Faye Evoletta bestrafte, um so mehr knabberte sie an ihren Nägeln und um so mehr das Kind unter Regeln absterben sollte, um so mehr begehrte dieses doch auf.


Zu späterer Stunde, nachdem sie gebadet war, umgekleidet und das Haar gekämmt, lag die junge Baroness im Bett und lauschte auf die Schritte vor der Türe. Lauschte auf jene die schwerer waren als die der Angestellten, die sich dem Zimmer vielleicht näherten mit Atem anhaltender Hoffnung gar. Einer Hoffnung, die sie niemals verlor, Tag um Tag, Abend um Abend und einem Wunsch, der so tief im Herzen der Vierjährigen erwuchs. Doch als die schwere Uhr im Flur zur zehnten Stunde schlug, wusste sie auch an diesem Abend, er käme nicht und bittere Tränen fielen über ihr Gesicht, wurden in weiße Stoffhandschuhe gewischt, die nach Schlägen, Essig und Salben verhindern sollten, dass Faye die frisch eingebläute Tugendhaftigkeit nicht auf kratzte. Leise wimmernd spricht das Mädchen zu sich selbst „Sei rücksichtsvoll zu anderen, sei freundlich und zuvorkommend. Beherrsche dich im Umgang..“ ein Schluchzen „sorge dafür, dass sich andere in deiner Nähe wohlfühlen..stehe.. stehe für dich ein...“ Im Grunde kannte sie jedes Wort der Regeln, jede Erklärung zu diesen, aber sie verstand sie nicht immer. Auch in dieser Nacht weint sie sich in den Schlaf, auch in dieser Nacht hoffte sie am Abend auf den Besuch des Vaters, auch in dieser Nacht träumte sie von ihrer Rettung und doch auch nach dieser Nacht kam der Morgen und mit dem Morgen die Regeln und der Rohrstock mit jenem der Schmerz, dem sie vermeintlich niemals ausweichen konnte.

Kommentare 10

  • Ich muss an Fräulein Rottenmeier denken. :o

    • Seltsamerweise ist die mir auch beim zweiten Lesen meines Textes in den Sinn gekommen.

  • Wow. Du hast das Maß des "einprügelns" wirklich gut getroffen, ohne dass es übertrieben wirkt. Gefällt mir sehr! :)
    Und schon bei diesem kleinen Einblick habe ich eine Abneigung gegen das Rohstockfräulein!

    • Vielen lieben Dank! Es sollte auch nicht hirnloses Geprügel werden und ich bin sehr froh, dass dieser Punkt herauslesbar war. <3

  • Wirklich anrührend und ungemein liebenswürdig. :)


    <3 Die Passage über ihre Hände hat mich besonders gerührt.

  • Hachja, sie kann sich aber auch manchmal nicht zusammenreißen. Armer Rohrstock. Dem tut bestimmt auch was weh.


    Schön geschrieben, wie stets, mit einem Sinn für Eindrücke. <3

    • Sie war vier! D: wie kann man den Rohrstock bemitleiden.. sowas.. :P *eingeschnappt ist*


      na gut für den zweiten Satz verzeih ich dir noch einmal <3

  • Traurig, aber sehr bildhaft geschrieben. Kurz: Mag ich =)