Das Medaillon (Renja)

Wütend stapft sie vor sich hin. Ohne auf ihre Umgebung zu achten, schreitet das sichtlich aufgebrachte Kätzchen durch die Gassen Löwensteins. Hauptsache weg von diesem … diesem Dreckskerl mit seinen dämlichen Witzen. Ob er weiß, dass er bei ihr einen Nerv getroffen hat? Bestimmt. Dumm ist er eigentlich nicht. Umso mehr ärgert es sie. Soll der bloß bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ohne ihn war sie in jedem Fall besser dran. Während sie an diesem frühen Abend immer weiter ohne ein bestimmtes Ziel dem Gassengewirr der Stadt folgt, knurrt sie jeden an, der sie auch nur anschaut. ‚Nur halb so hart, wie sie ausschaut…‘. Pah! Er hat sie noch nie ernsthaft wütend erlebt.


Wütend kickt sie einen Stein, der ihr im Weg liegt, mit dem rechten Fuß davon. Als dieser mit einem leisem ‚Tock‘ gegen eine Holztür knallt und dann zu Boden fällt, wo er noch einmal um sich selbst kugelt und schließlich liegenbleibt, hält die Katze an. Leises Kinderlachen klingt ihr in den Ohren. Es hört sich fröhlich an, doch als sie sich umsieht, kann sie weit und breit keine Kinder sehen. Die Gasse, in der sie steht, ist menschenleer. Die meisten Bewohner in diesem Viertel sitzen wahrscheinlich am Abendbrottisch oder zusammen mit Opa auf dem Sofa, um seinen alten Geschichten zu lauschen. Renja stößt einen leisen Fluch aus, als sie die Gegend schließlich wiedererkennt. Auch wenn sie einen Teil dieser Gasse neu aufbauen mussten, so hat sich doch im Wesentlichen nicht viel hier geändert. Sie sah es regelrecht vor ihrem inneren Auge: Die Gasse weiter runter war der Bäcker Towan, der herrlich duftende Bananenbrote verkauft hat. Direkt daneben hatte der Schuhmacher Weißmann einen kleinen Laden. Nur wenige Häuser weiter lebte die alte Nornfrau Brunwald, die die besten Süßigkeiten der Welt machte. Davon war Renja damals überzeugt. Damals … vor einer Ewigkeit. Als sie noch in diesem Viertel lebte. Mit ihren Eltern und ihrem nur ein Jahr älteren Bruder Ravok. Missmutig presst die Katze die Lippen aufeinander. Seit einer Ewigkeit hatte sie dieses Viertel nicht mehr betreten. Seit diesem Tag… als sie zur Waise wurde. Renja schluckt schwer, doch der Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hat will einfach nicht weggehen. Schwer und Vorwurfsvoll hat er es sich hinter ihrer Kehle bequem gemacht.
Unweigerlich beginnen ihre Schritte sie fortzutragen. Sie läuft weiter die Gasse hinunter, als würde etwas sie magisch anziehen. Gelähmt von ihren Erinnerungen weiß sich die Katze nicht dagegen zu wehren und schließlich bleibt sie vor einem der Häuser stehen. Es ist ein unscheinbares Haus. Es gleicht den Häusern links und rechts davon, wurden sie doch alle im selben Stil gebaut. Vor den Fenstern neben der Eingangstür sind Blumenkästen angebracht. Blaue und rote Veilchen blühen in voller Pracht und verschaffen dem Heim eine angenehme Atmosphäre.
„Das ist falsch.“ Denkt sich die Katze und schüttelt ablehnend den Kopf. Stiefmütterchen. Dort müssten Stiefmütterchen wachsen. Dort wuchsen schon immer Stiefmütterchen. Wie gebannt starrt Renja das Haus, dass ihr einst so vertraut war, weiter an. Hinter dem Vorhang im Fenster kann sie die Schemen der Bewohner ausmachen. Eine kleine Menschenfamilie lebt dort. Sie sitzen auf dem Sofa und spielen vergnügt mit ihrem kleinen Kind. Immer wieder will es vom Vater in die Luft gehoben werden, der lachend der Aufforderung immer wieder nachkommt. Durch die Scheibe hindurch kann Renja das vergnügte Lachen des Kindes hören, während gleichzeitig ihr eigenes Lachen aus ihrer Erinnerung in ihren Ohren wiederhallt. Es war eine schöne Erinnerung an eine schöne Zeit. Wie von selbst hebt sie ihre Hand hinauf, um mit kalten Fingern nach dem Einzigen zu greifen, was ihr von damals geblieben war: ein kleines goldenes Medaillon. Als die schöne Erinnerung schlagartig verblasst und einem Bild des Schreckens weicht, dreht sich die Katze plötzlich um und stapft mit wehendem Mantel in die Nacht davon.
Fort aus dieser Gegend.
Fort aus Löwenstein.


Das nächste Mal würde sie besser aufpassen, wo sie hingeht.

Kommentare 7

  • Bad trip down Memory Lane!

  • Stiefmütterchen, die gezähmten großen Geschwister der wilden kleinen Waldveilchen!
    Sie sollten nicht nur an diesem einen Haus wachsen! ;)


    Hab ich gern gelesen.

    • Man sollte auf jeden Fall die ganze Welt mit Blümchen zupflastern!! <3
      Danke fürs lesen :)

  • Ich kann mich Luc nur anschließen - eine Geschichte von der Katze! Ich freue mich, es hat sich sehr flüssig und fein gelesen und - verdammt, nun bin ich neugierig! *g*

    • Vielen lieben Dank für das Lob <3
      Und vielleicht wird deine Neugier ja auch belohnt :3

  • Schön von dir zu lesen <3
    Und von Renja :)

    • Hat auch wieder großen Spaß gemacht, wieder etwas zu schreiben :)
      Danke fürs Lesen <3