Omas Wunsch (Marie)

Schwere Tropfen prasseln gegen die Fensterscheibe, als Marie ihren durchnässten Umhang ablegt und an die Garderobe hängt. Als ihre Brille anfängt zu beschlagen, nimmt sie diese mit einem leisen Murren ab und fischt nach ihrem bestickten Taschentuch in ihrer Rocktasche.


„Du bist es, Marie. Ich hatte mich schon gewundert, wer bei diesem furchtbaren Wetter freiwillig das Haus verlässt.“


Marie schaut von ihrer Brille zu dem hochgewachsenen Mann, der sie mit vertrauten Worten begrüßt. Sie muss ihre Brille nicht aufsetzen, um zu wissen, wer dort steht. Zart lächelt sie den viel älteren Mann an und setzt sich nun die vom Nebel befreite Brille wieder auf die Nase.


„Als ob Wind und Wetter mich jemals davon abgehalten hätten, hinauszugehen, Vater. Vor allem dann nicht, wenn ich meine Familie besuchen möchte.“
„Das klingt ja beinahe so, als könnten wir ohne dich nicht auf eigenen Füßen stehen, mein Kind.“ Antwortet er dann in gespielt strenger Tonlage. „Wobei uns deine finanzielle Unterstützung wirklich eine große Hilfe war. Aber meinst du nicht, du solltest das Geld nicht langsam mal für dich selbst ausgeben?“


Maries Lächeln schwindet daraufhin wieder und entschieden schüttelt sie den Kopf. Sie entscheidet sich erstmal das Thema zu wechseln. „Wie geht es Oma?“


Die freundlich lächelnden Gesichtszüge des älteren Mannes verändern sich zu einer sorgenvollen Maske. Sein Blick senkt sich und traurig schüttelt er den Kopf. „Nicht gut, Marie. Ihr Husten ist schlimmer geworden und …“ Da hält der Vater kurz inne und schaut seine Tochter traurig an. „Du musst das nicht tun, Marie. Du hast doch jetzt selbst mehr als genug zu tun.“


Beleidigt senken sich Maries Augenbrauen etwas herab. „Ich bin hier, weil ich hier sein will, Vater. Ich kümmere mich gerne um Oma. Ihr habt schließlich auch alle Hände voll zu tun, seit Reginald wieder hier wohnt.“


Ihr Vater seufzt leise. „Ach, Marie…“ Er scheint noch mehr sagen zu wollen, doch dann nimmt er mit einem milden Lächeln seine einzige Tochter in den Arm und drückt sie sachte an sich. Lange hält er die Umarmung nicht aufrecht, da drückt er sie wieder ein kleines Stück von sich, um sie besser ansehen zu können. „Gib immer gut auf dich Acht, hörst du?“


Als Marie daraufhin leicht nickt, scheint er zufrieden und lässt sie schließlich ganz los. „Gut, ich muss wieder rüber ins Haupthaus. Die Abzugklappe vom Kamin scheint zu klemmen und verlangt daher meine Aufmerksamkeit. Deine Oma freut sich sicher über deinen Besuch.“


Und mit diesen Worten schlüpft er in seine schweren Arbeitsstiefel und wirft sich für den kurzen Weg vom kleinen drei-Generationen-Häuschen zum Anwesen der Crovelts seinen wasserdichten Mantel über. Dann schnappt er sich seinen Werkzeugkasten und huscht durch die Eingangstür hinaus. Marie wartet geduldig, bis er die Tür hinter sich zugeworfen hat und zieht sie dann nochmal richtig heran, damit sie nicht von alleine wieder aufgeht. Dann geht sie durch den kleinen Vorraum in den Wohnbereich und schaut auf dem Weg zur Treppe beiläufig zum Kamin. Ihr Vater hatte wohl gerade erst frisches Holz nachgelegt, damit das Häuschen halbwegs warm bleibt. Sie folgt der Treppe in den ersten Stock und tastet sich im halbdunklen zu Omas Schlafzimmer vor. Bis auf Oma und Marie ist derzeit niemand ihrer Familie im Haus. Zu dieser Abendstunde ist es nicht ungewöhnlich, dass sie noch alle im Anwesen bei der Arbeit sind. An Omas Zimmertür angekommen, atmet sie einmal tief durch und klopft dreimal leise an das raue Holz. Als Antwort erhält sie ein langanhaltendes, röchelndes Husten, gefolgt von einem krächzendem „Herein.“ Marie presst kurz die Lippen zusammen, zwingt sich dann aber zu einem freundlichen Lächeln und betritt das Zimmer.


„Marie! Du gutes Kind. Es ist so schön dich zu sehen.“


„Hallo Oma.“ Begrüßt sie diese mit einem Lächeln und ungeachtet ihrer Krankheit umarmt sie die alte Frau liebevoll ehe sie sich auf den Stuhl neben dem Bett setzt. Den beißenden Geruch nach allerlei Medizin, der schwer in der Luft hängt, ignoriert sie. Ebenso verkneift sie sich den wehmütigen Blick zum Fenster. Draußen regnet es immer noch in Strömen, was ein Lüften im Moment unmöglich macht. „Du siehst besser aus, Oma.“ Lügt sie. Doch Oma weiß es besser.


„Du sollst nicht lügen, Marie. Wir wissen beide, dass es mir seit gestern nicht besser geht. Und du wirst bald genauso krank sein, wenn du weiterhin jeden Tag deine freie Zeit am Krankenbett einer alten Frau verbringst.“ Obwohl sie fast so blass wie ihre Laken ist und selbst kaum noch die Kraft hat, die dicke Daunendecke überhaupt anzuheben, hat sie von ihrer scharfen Zunge nichts eingebüßt.


„Sag doch nicht sowas, Oma. Wer soll sich denn sonst um dich kümmern? Alle haben wieder so viel zu tun. Sie haben weniger Freizeit als ich und so schnell werde ich schon nicht krank.“


Routinemäßig schaut sie nach dem Nachttopf, der allerdings leer ist. Ihr zweiter Blick geht zu der Wasserkaraffe, die hingegen noch ziemlich voll ist.
„Du trinkst zu wenig, Oma.“ Meint sie mit vorwurfsvoller Stimme.


„Pah! Du bist genau wie dein Großvater. Der hat mir auch immer vorgeschrieben, was ich zu tun habe. Recht hatte er ja, dein Opa. Wurde auch nie krank. Und doch ist er seit Jahren tot.“


Betrübt nimmt sie die zierlichen Hände ihrer Oma in die eigenen. Sie sind kalt und die Haut fühlt sich so runzlig und zerbrechlich an wie altes Pergamentpapier. Sachte beginnt sie mit den Daumen über die Handrücken ihrer Oma zu streicheln.


„Du wirst aber nicht einfach nur von gutem Willen gesund, Oma. Wenn du nichts zu dir nimmst, hast du bald keine Kraft mehr, um gegen die Lungenseuche anzukämpfen.“ Eindringlich klingt ihre Stimme und tiefe Sorge um diesen so geliebten Menschen schwingt darin mit. Als wäre dies ein Stichwort gewesen, wird die alte Frau erneut von einem schweren Hustenanfall geschüttelt. Ihre fragilen Hände klammern sich an die von Marie, als klammere sie sich an das Leben selbst. Und doch ist es auch ein Zeichen, dass noch Kraft im Körper steckt. Andernfalls würde er nicht so krampfhaft versuchen, die Seuche aus dem Lein zu husten. Als die alte Frau wieder zur Ruhe kommen ist, rinnt ihr ein Schweißtropfen die Stirn hinab und so greift die Enkelin nach einem Tuch vom Nachttisch, um diesen wegzuwischen.


„Vielleicht… sollte ich einfach deinem Großvater folgen.“ Meint sie schwermütig. „Inzwischen weiß ich, dass ihr alle auch ohne mich zurechtkommen werdet.“


„Sag nicht sowas, Oma!“ platzt es aus der jungen Frau heraus, während sie die Kranke erschrocken und ängstlich anschaut. „Sobald der Umzugsauftrag im Kontor abgeschlossen ist, gebe ich meine Stellung dort auf. Dann kann ich mich um dich kümmern. Und wenn es dir dann wieder bessergeht, fange ich wieder an, hier zu arbeiten.“


Nun sind es ihre Hände, die sich flehend an die der Oma klammern. Luise schaut ihre Enkelin eine Weile schweigend an. „Magst du deine Arbeit im Kontor etwa nicht? Ich dachte, die Leute wären dort alle freundlich.“


Traurig senkt sich ihr Blick und verzweifelt beginnt sie auf ihrer Unterlippe zu kauen. „Sie sind alle gute Leute. Und mir gefällt die Arbeit dort. Aber…“


„Kein Aber, Marie!“ Unterbricht die alte Frau Marie da energisch. Überrascht schaut sie ihre Oma an, während diese mit ernstem Blick zurückschaut. Ihre Hände drücken die Marie und unterstreichen die eindringlich gesprochenen Worte.


„Ich möchte nicht, dass du deine Anstellung dort für mich aufgibst, junge Dame. Erst recht nicht, wenn sie dir besser bekommt, als jede Arbeit, die du hier verrichten müsstest. Ich will nicht, dass du hier wie eine Blume ohne Licht und Wasser jämmerlich eingehst. Meine Augen mögen auf die Tage etwas trüb geworden sein, aber ich kann immer noch erkennen, dass du aufgeblüht bist, seit du dieses Anwesen verlassen hast. Du bist ein so kluger Kopf, Marie. Du hast besseres verdient, als weiter hier dem Spross eines Ekels zu dienen.


„Aber Oma…. Herr Owen ist doch ebenso ein Sohn des alten Crovelt.“


„Aber er ist nicht dein Chef, oder? Na also. Ich bin alt, Marie. Ich habe mein Leben gelebt. Du aber hast deines noch vor dir. Bitte erfülle den Wunsch einer alten Dame und versuch mehr als ein einfaches Hausmädchen aus dir zu machen. Ich weiß, dass du es kannst.“


Betrübt schluckt sie den schweren Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hat, herunter. Es dauert einige Anläufe, doch dann fühlt sich zwar der Hals etwas freier an, aber nun scheint der Kloß ihr die Brust abzuschnüren. Wie kann sie die Bitte der ihr liebsten Person abschlagen? Langsam nickt sie.


Das scheint Luise zufrieden zu stimmen. Schwach lächelt sie. „Sehr schön. Und jetzt sei doch bitte ein gutes Kind und bring mir etwas Apfelkompott. Ich glaube, ich habe tatsächlich ein wenig Hunger.“


Wieder nickt Marie und steht leise auf. Bevor sie Omas Bitte nachkommt, beugt sie sich über sie und drückt ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn. Dann dreht sie sich um, und verlässt das Zimmer, um in die Küche zu huschen. Froh darüber, dass ihre Oma nicht die Träne sehen kann, die ihr nun über die Wange rollt.

Kommentare 7

  • " Bitte erfülle den Wunsch einer alten Dame und versuch mehr als ein einfaches Hausmädchen aus dir zu machen. "
    *wedelt mit einer Verpflichtung bei den Seraphen* :D

    • hehe, gar kein so schlechter Gedanke xD Aber ich fürchte Marie wäre viel zu nett dafür...
      "Was? Du hast ihn geschlagen, weil er dich hässlich nannte? Ach du armer. Hier nimm einen Keks."

    • Uuuuh, das klingt, als ob es Zeit für Amys schlechten Einfluss wird *g*

  • Die Oma so: Ich leb ja nur noch für euch, dann tut doch auch mal was für euch. :0

    • Na aber hallo! Voll die nette Oma! Und sie gibt den Ton an, bis zum Schluss xD

  • Ich mag Marie. Sie ist ein rundum zauberhafter Charaktere und eine ganz liebe Seele. Ich freu mich jetzt wieder mehr von ihr lesen zu können.

    • Du Herzchen, du! <3
      Ich bin auch gespannt, wohin ihr Weg sie noch so führen wird. Ich kann mich immer wieder nur dafür bedanken, dass du sie/mich ins Boot geholt hast