Altlasten

"Wieso müssen wir uns hier treffen, Vitja?" Pavel schenkte seinem alten Freund ein sorgenvolles Lächeln. Er hatte die Finger auf dem eigenen Steiß ineinander gelegt und betrachtete den Jüngeren voller ehrlicher Aufmerksamkeit aus dem Augenwinkel heraus. Der Mann hatte bereits so eine Ahnung. Er gab sich allerdings bescheiden genug sie nicht laut auszusprechen.
"Ich möchte, dass ihr Ligia zu euch nehmt. Nur für eine Weile. Bringt sie aus der Stadt heraus und beschäftigt sie." Das Geräusch, das rohe Fingerkuppen verursachten, die durch grobe Bartstoppel strichen, war charakteristisch.
"Hmhm...Ich kann es ihr anbieten. Aber entscheiden kann ich das nicht." Es war keine Neuigkeit. Pavel wog mit dem kahlen Kopf, den er zum Schutz vor der herbstlichen Witterung in eine sattgrüne Wollmütze gepackt hatte. Der weiße Bommel, der das Bild krönte, wippte darauf im Takt.
"Tu das und lasse dich nicht von ihr abwimmeln. Nimm sie im Notfall einfach mit. Sie hat hier nichts zu suchen." Das Leder des schweren Mantels knirschte, als Victor die Arme vor der breiten Brust verschränkte. Voller Nachdenklichkeit betrachtete er durch seine zweigefärbten Augen die gegossenen Lettern im Grabstein seines Bruders.

"Wir sind nicht wegen Ligia hier, oder?" Pavel hatte eine ganze Weile geschwiegen. Er hatte sich die Worte seines Cousins durch den Kopf gehen lassen und sich dabei in der Betrachtung des Friedhofes verloren. Das bunte Laub, das vom kalten Wind über die Wege gepeitscht wurde, gefiel ihm von allen Eindrücken mit Abstand am besten. Es war schwer sich davon loszureißen.
"Ich hätte sie nicht betrauert."
Die beiden Iorgas sahen einander an. Sie bemaßen sich aus der Distanz heraus, die im Grunde gar keine wirkliche war, denn sie standen Arm an Arm.
"Wie du meinst." Es lag nicht in Pavels Natur Widerspruch einzulegen. "Wie geht es Claire und den Kindern?" Sein Lohn für diese Frage war ein grässliches Lächeln. Schmale Lippen, die sich bleich und spröde zu einer Fratze reinster Ironie verzogen. Eine Antwort aber blieben sie ihm schuldig.
"Wenn du nicht über Helena, nicht über deine Frau und die Kleinen sprechen willst...Vitja...was tun wir hier?" Es stand ihm gut Dinge zu erbeten, ohne ihnen den fahlen Beigeschmack von ruheloser Ungeduld zu verleihen. Er würde auch in drei Stunden noch hier stehen, eingehüllt in seinen langen Mantel und beladen mit dem schweren Pelz auf den dafür viel zu schmal wirkenden Schultern.


"Dein Junge hat eventuell ein Problem." Im iorgaschen Nacken des Luden knackte es vernehmlich. Pavel lächelte. Erst danach erschloss sich der Sinn Victors Worte.
"Er ist auch dein Junge." Ein unvermittelt gehobene Hand ließ ihn inne halten, es akzeptieren und nicht weiter in diese Richtung agieren. "Was ist los?"
"Tulio ist tot." Aber auch das wusste Pavel längst. Es war nicht die Antwort, die er erwartet, die er erbeten hatte und darum schwieg er. "Und sein Bruder." Diese Information war neu. "Einer von den vielen." Victor lachte dumpf auf. Es war ein Klang fern jeglicher Freude. "Bisschen wie Ratten, findest du nicht auch?" Es lag nicht an Pavel sich dazu zu äußern. Er atmete durch und seufzte still. Ein Laut dem Genuss des Augenblickes entspringend. Das herbstliche Flair versetzte den alten Iorga in eine fast schon euphorische Stimmung, die er durch ein einmaliges Augenbrauenwippen zum Ausdruck brachte. Einem anderen Zweck diente die Geste nicht.
"Könnte sein, dass Levi ihn zerlegt hat?" Victor lachte. Dieses mal tat er es deutlich lauter. Laut genug den Wächter des Grenthackers am anderen Ende des Platzes aufmerken und missbilligend drein schauen zu lassen. Er war klug genug es nicht vor den Iorgas zu tun. "Ich weiß es ehrlich nicht. Aber es wäre denkbar. Wäre es doch, oder nicht?" Eine Frage, die keine Antwort bedurfte. Das zumindest beschied der Ältere, der jetzt davon absah seinen Vetter noch einmal nach dem wirklichen Grund ihres Treffens hier zu fragen. Er wollte es offenbar nicht sagen und Pavel nahm diesen Umstand als gegeben und für den Moment unabänderlich hin.


"Ist schon seltsam, was?" Dieses Mal stellte er die Frage. Victor schwieg.
"Wie sich alles im Laufe der Zeit ergeben hat meine ich. Hättest du vor zehn Jahren geglaubt heute hier zu stehen?" Er stellte die Frage ganz bewusst auf genau diese Weise. Victor verlagerte sein Gewicht. Er lehnte sich gegen den deutlich größeren, aber auch deutlich schlankeren Mann. "Wirst du sentimental gerade?" Pavel bedachte seinen Nähe suchenden Nebenmann mit einem knappen Blick voller brüderlichem Tadel. Dann schüttelte er mit dem Kopf.
"Ja nun...Weiß mans? In der heutigen Zeit ist alles möglich." Das war jetzt so nicht ganz richtig. Pavel überlegte einen Moment und atmete dabei langezogen aus. Er wog das Für und Wider ab und überlegte im Stillen für sich, ob es sich lohnte, ob er es wagen sollte. Victor nahm ihm die Entscheidung gnädiger Weise ab. Er tat es mit einer Faust, die sich unvermittelt von vorne in den dürren Magen des Älteren grub, ihn keuchend nach Luft schnappen ließ und ihn dann auf den Boden der Tatsachen beförderte. Ohne nach seinem Vetter zu sehen, drehte Victor auf dem Absatz herum, schwang seinen Gehstock und zog von dannen.


"Achso.", ächzte Pavel, der sich danach erbrach und den halb verdauten Nudelauflauf vom Mittag mit Pauls Gebeinen teilte. "Wenigstens ergibt einmal etwas Sinn."

Kommentare 6

  • Diesen Text zu lesen fand ich sehr anstrengend. Und das ist durchweg positiv gemeint.
    Ich glaube, du bist auf eine ganze extreme (womit ich im Vergleich zu anderen meine) Art ein Mensch für Zwischentöne. Deine Charaktere erzählen einem nicht über sich, sie zeigen dem aufmerksamen Beobachter, wie sie sind, und nur diesem, wie mir scheint. Ich bin hier Zeile um Zeile durchgegangen mit meinen Augen und war gedanklich doch vor allem dazwischen auf der Suche nach Hints, nach Stimmungen und Gesten, die mir auf irgendeine Weise ein Bild davon vermittelten, wie es hinter ihren Köpfen aussah, während du selbst überwiegend den Außenfilm dazu geliefert hast. Diese Szene, die ich als Leser beobachtet habe, ohne mich deshalb zum Gedankenleser zu entwickeln.
    Sehr interessant. Und sehr herausfordernd. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich etwas gelernt oder mir nur etwas eingebildet habe. Danke aber für diverse Denkanstöße.

    • Uff. Dann...habe ich geschafft was ich schaffen wollte. Ich probiere mich manchmal aus im schreiben und versuche eben genau das zu erreichen. Bei diesem Text hier zumindest. Dass man dazwischen lesen muss. Dass nicht alles offensichtlich einem vor die Nase gesetzt wird usw. Ich freue mich, dass es bei dir diese Wirkung hatte. Danke für dein Feedback :)
      Und...Alles verstehen muss man gar nicht. Zum Denken anstoßen. Manches kann man ja auch gar nicht verstehen, wenn man die Charaktere dazu noch gar nicht "wirklich" kennt.

    • Es ist auch viel schöner, wenn man das Aha-Erlebnis im direkten Zusammenspiel mit dem Charakter hat, nachdem man ihn eine Weile begleiten durfte, als einen solchen Moment beim schlichten Lesen eines Textes über die Figur zu bekommen.

    • Ich schließe mich Travon an, da muss ich nicht so viel selber formulieren/benennen von dem ich gar nicht wusste dass ich es beim Lesen empfinde....oder so! Mich würde aber interessieren wie der Wächter nun reagiert.

  • Ich verspüre ganz unvermittelt Lust auf Hasenbraten. Möglicherweise sollte man einfach endlich einmal den Grill anwerfen.