Der kleine General

„Adya! Adya, nein! Lass mich runter!“
Helena Iorga, ein siebenjähriges Mädchen in einem buttergelben Kleid, schwebte wie eine Ballerina durch die Luft. Ein goldener Rausch aus Locken fiel ihr übers Gesicht. So sehr sie auch versuchte, den Boden zu erreichen, so fern war er ihr doch von den Schultern ihres älteren Vetters aus, der sie herumtrug und keinem ihrer Versuche nachgab, sich zu befreien.
„Nein nein nein nein nein!“
Sie lachte und zappelte. Sie kämpfte und strampelte. Ihr Lackschuh traf Adrian in den Rücken, der zwar zusammensackte, aber nicht anhielt. Er rannte weiter mit ihr auf den Schultern durch das Haus, dicht hinter ihm Helenas ältester Bruder Leon, genüsslich wie ein königlicher Aufseher.
„Lasst mich runter, ihr Schrecklichen! Ich hau euch beide zusammen!“
„Na mach doch, du kleiner General!“, spottete Adrian.
Und das nächste, was er tat, war, sie im Schrank niederzulassen und sie ins Innere zu drücken.
„Nein nein nein nein! Lass mich runter!“, rief sie noch wild protestierend, kein Lachen mehr auf den Lippen und die kindischen Züge vor empfundenem Unrecht verzogen, als sie schon längst wieder auf den Beinen stand. „Ich komme mit! Ich komme mit euch mit!“
„Du kannst nicht mit“, antwortete ihr Bruder. Er lächelte ihr leger und gütig zu. Auch Adrian lächelte wie einer, der sich liebevoll um sie sorgte. Dann haute er die Schranktür zu und sperrte sie im Inneren ein.
„Nein!“, kreischte Helena. Sie bediente sich ihrer gesamten Wut und Empörung. Mit beiden Fäusten schlug sie gegen die Tür, aber sie sprang nicht auf. „Nein! Lasst mich raus. Ich bringe mich um, wenn ich nicht mit darf!“
„Das wage ich zu bezweifeln.“
Eine Weile hörte sie noch Gelächter und Schritte auf den Dielen. Dann wurde es still. Mit einem Schlag war ihr die beengende Dunkelheit ihres Gefängnisses bewusst, das sie leer und drückend umgab wie ein Zimmer, dessen Wände bis zum letzten Schritt aufeinander zugerückt und dann in Stillstand verfallen waren. Sie wusste, dass es keinen Nutzen hatte, zu schreien. Ihr Bruder und ihr Vetter waren weg, zum Obstmeier, um zu klauen. Ihre Mutter und ihr Vater waren nicht da. Wahrscheinlich musste sie eine Stunde oder länger aushalten, bis die Älteren die Gnade besaßen, sie wieder rauszuholen. Helena sank nieder, sprang dann auf und gegen die Tür. Aber sie blieb verschlossen. Es hatte keinen Sinn. Um sich die Zeit zu vertreiben, sang sie Lieder, in die sie Adrians und Leons Namen einbaute und alle Fluchworte, die sie kannte. Sie hatte ein paar gute von Victor aufgeschnappt. Ihre Mutter schlug stets die Hände über dem Kopf zusammen, wenn Victor vor den Kindern trank und mit dem Schimpfen anfing, aber wenn Helena ehrlich war, machte dieser ganze Aufruhr die Flüche, die sie dadurch lernte, nur noch wertvoller. Dinge, die erlaubt waren, hatten einfach nicht denselben Reiz.
Ihre hässlichen Lieder gefielen ihr. Sie waren so schmutzig und dreckig wie die Seelen ihres Bruders und Vetters, und um ihrem ganzen Hass Ausdruck zu verleihen, trat sie bei jedem Takt fest mit ihrem Schühchen gegen die Schrankwand. Sie erschrak, als die Tür plötzlich aufschwang und zwei Gesichter sie angafften.
Das eine war zart und spitz, mit zwei riesenhaften Augen, die niemals blinzelten. Das andere war rundlich und verstört und musterte Helena mit einer Mischung aus Unsicherheit und Staunen, als sie sich erhob, ihr Kleid raffte, und aus dem Schrank stolzierte.
„Aus dem Weg, ihr Narren!“, befahl sie beiden. Sie ging in ihrer Mitte hindurch. Obwohl genug Platz für sie war, stieß sie mit den Schultern beide zur Seite.
„Lenchen, was hast du im Schrank gemacht?“
Es waren gar nicht Adrian und Leon gewesen, die sie rausgeholt hatten. Es waren ihr anderer Bruder Ilie und ihr Vetter Nikolaj.


Helena stand vor dem Schrank und schaute hinein. Er war aus ganz leichtem Holz gefertigt, hell lackiert und hing voller Kleider. Es war ein anderer Schrank in einem anderen Haus. Hinter ihr standen Nikolaj und Ilie, zwei erwachsene Männer, die sie, eine erwachsenen Frau, aufgesucht hatten, als sie nach ihnen verlangt hatte.
„Ich kann es Leon nicht sagen. Er wird versuchen, mich abzuhalten. Er hat Adrian immer wie einen Bruder geliebt.“
Sie hörte das Geräusch eines Apfels, den Nikolaj in den Händen drehte, während er ihm langsam die Haut abschälte. Ilie stand dichter bei ihr und beobachtete sie aus seinem hellblau starrenden Blick ohne zu blinzeln. Sie zog ein dunkles Kleid heraus, ein Puppenkleid in Schwarz. Sie trug zur Zeit nur Schwarz. Sie trauerte um ihre toten Verwandten und Freunde. Sie trauerte schon jetzt. Es war leichter, manche Dinge vorher abzuschließen, und ihnen somit den Weg abzuschneiden. Man schickte sie voraus, sodass sie einen nicht verfolgen konnten.
„Was willst du mit Adrian?“, fragte Ilie. So wie er sprach, hatte er noch immer nicht verstanden, warum seine Schwester ihn gerufen hatte.
„Das hängt sehr von seinem Verhalten ab.“
Sie trug das Kleid zu ihrem Bett und breitete es auf den weißen Laken, unter dem weißen Himmel aus. Es warf einen wunderschönen Kontrast. Nur Blut im Schnee gab noch ein schöneres Bild ab. Das Geräusch des Apfels war für ein paar Sekunden das einzige im Raum. Als sie sich umdrehte und zu ihrem Vetter Nikolaj ging, hatte er ein Stück für sie runtergeschnitten.
„Danke, Kolja.“ Sie nahm das Apfelstück zwischen die Finger. „Ich sage: Wir stürzen Nicolae.“
Mit dem sanftesten Blick hob sie den Apfelschnitzen und legte ihn wie ein Grinsen an ihren Mund.

Kommentare 13

  • Iorga - Blutiger Schnee.


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    • <3


      So nice. So friedlich. Und ich denk immer so in Sicario-Maßstäben


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  • Wow vielen Dank. Vielleicht sollte ich öfter im Halbschlaf schreiben? ;P

  • Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, Perlen aufzuheben. Super.

  • Ich finde die Überleitung mit dem alten und dem neuen Schrank super gut!


    Mal schauen, wie sich das auflöst :D

  • Es ist überhaupt gar kein Wunder, dass jeder in dieser Familie ist, wie er ist. Sehr schön <3