Rollentausch

Damals


"Anny, komm doch endlich raus. Biiitte. Du hockst schon seit Stunden da drin."
Das blonde Mädchen saß am Rand des trockengelegten Brunnens, mit beiden Händen auf Stein abgestützt. Ihre weißbestrumpften Beine schaukelten aus dem dunklen Schürzenkittel heraus, die kurzen Absätze der kleinen Lackschuhe tockerten gegen vermoosten Stein. Wäre da nicht eine schmerzvolle Dringlichkeit in der hellen Kinderstimme gewesen, man hätte meinen können, das Mädchen säße dort zum Spaß.
Aus dem Brunnen drang Stille.
"Ioan, ich weiß, dass das wirklich unschön ist." Nach einer kurzen Pause fuhr Antonia Stanwick fort. Sie mühte sich schon seit anderthalb Stunden, verantwortungsbewusst und geduldig, wie es eine Neunjährige noch nicht sein sollte. "Sie schreit und riecht und verlangt alle Aufmerksamkeit Mamas. Aber jetzt ist sie nun einmal da. Komm doch heraus, Anny, Liebes. Es nutzt doch niemandem, wenn du da unten hockst."
Keine Antwort.
Antonia seufzte und nahm das weißblonde Haar im Nacken einmal zusammen. Beim letzten Mal war ihr kleiner Bruder Ioan - obschon "klein" relativ war bei einem Unterschied von gerade einmal einem Jahr - die ganze Nacht lang in "seinem" Brunnen geblieben. Es hatte sich eingebürgert, dass die Eltern den Versuch, den kleinen, wirren Geist des Sohnes zur Ruhe zu bringen, seiner Schwester überließen. Wenn der Bub eine seiner Episoden hatte, war Antonia oft die einzige, die ihn herausholen konnte.
"Ich meine, es ist ja nicht, als könnten wir sie jetzt zurückgeben oder dergleichen. Wir werden mit Mirabel leben müssen. Ich helfe dir auch dabei." versprach das Mädchen der Stille im dunklen Brunnenschacht. Warum es mit ihrem Bruder eigentlich so schwierig war, verstand sie noch nicht wirklich. Für Antonia war Ioan ein wunderliches, wunderbares Wesen aus dünnem Glas und blauem Licht, das man nur ganz behutsam behandeln durfte. Niemals berühren, sonst zersprang es.
"Ich ziehe sie auch an den Zöpfen für dich. Wenn du magst, dann zwicke ich sie, richtig doll. Es wird keiner merken, wenn sie ein bisschen mehr schreit."
Nichts.
"Oh, Anny. Bitte." Die schmalen Schultern des Mädchens rollten sich ein. "Lass mich doch mit diesem Elend nicht alleine." Natürlich, ihr Bruder war - gelinde gesagt - schwierig und oft wenig zu ertragen, aber er war immer schon da gewesen und in all seiner Komplexität und Verschlossenheit trotzdem Antonias unerschütterlich verschworener Freund. "Außerdem kannst du gar nicht für immer im Brunnen bleiben. Die Kristallformationen, die wir angesetzt haben, sind jetzt schon bald dreiundsiebzig Stunden alt. Du kannst mir doch schwerlich alleine dein Experiment überlassen."
Ein Luftzug erhob sich, trieb altes, braunes Laub aus dem Brunnenschacht. Antonia lächelte. Getragen von einem Windpolster schwebte der blonde Junge mit den leeren Augen aus dem Schacht und ließ sich mit einem ganzen Brunnenlochabstand gegenüber seiner Schwester auf dem Stein nieder.
"Aber du musst sie richtig fest zwicken." verlangte er und sah dafür seiner Schwester ganze vier Wimpernschläge lang in die Augen.
"Versprochen. Ganz dolle."
Beide Kinder streckten die Arme aus und wischten in einem komplizierten, geheimen Handschlag ihre Verbundenheit miteinander durch die Luft. Ihre Hände hatten sich dabei noch nie berührt. Das brauchten sie aber auch nicht.


Heute


Die Tür zur Werkstatt riss auf. Ioan Stanwick duckte sich, statt aufzuschauen, noch tiefer über seine Arbeit. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Wer da hereinplatzte, interessierte ihn erst recht nicht. Der Konstrukteur wollte nur die eine Ornamentätzung auf dem schmalen Mithrilstreifen fertigbringen, ehe die Ladung des Stiftes verbrauchte und er neu arkanionisieren musste. Noch während er sich darüber ärgerte, vom aktuellen Arbeitsschritt abgelenkt zu werden, wurde er auch bereits wieder vom Gedanken an den nächsten Arbeitsschritt abgelenkt.
Irgendetwas aber stimmte nicht. Jemand hinter ihm ...
...schluchzte.
Ioan Anthony Stanwick war kein Experte in Sachen Gefühlsausdruck aber dieses Geräusch erkannte er und auch die Stimme. Also drehte er sich um.
Seine Schwester stand dort gegen die geschlossene Türe gelehnt und weinte. Er zählte mühsam Eins und Eins in seinem Kopf zusammen und ließ es bleiben, Antonia darauf hinzuweisen, dass die Türe immer einen Spalt weit geöffnet sein musste. Weinende Menschen hatten keinen Sinn für die Bedürfnisse anderer, hatte man ihm beigebracht.
Der Mann starrte die Schwester dort an der Türe an, die den Kopf hängen ließ und mit einer Hand ihre Augen beschirmte. Ihre schmalen Schultern bebten vor sich hin im Versuch, nicht all zu viel Lärm zu verursachen.
Ioan erhob sich unbehaglich. Seine Arbeit war nicht vergessen. Das war sie nie. Aber er wusste, dass es für eine Situation wie diese ein korrektes Verhalten gab und er würde versuchen, es einzuhalten. "Ähm. Toni? Alles in ...Ordnung?" Die Frage in ihrer völligen Redundanz ließ Ioans Kopfhaut jucken. Natürlich war etwas nicht in Ordnung. Menschen, mit denen alles in Ordnung war, weinten nicht.
"Ja...nein...ach, verdam...dieser gemeine Mensch..." Was immer Antonia Stanwick ihrem Bruder mitteilen wollte, es ging in lautem Schluchzen unter. Jetzt schlug sie auch die zweite Hand vors Gesicht und flennte so richtig los. Ioan hatte sie noch nie weinen sehen und es war ihm zutiefst unbehaglich. So sehr, dass er mit dem Finger in den ohnehin lockeren Kragen seines Arbeitshemdes fuhr, weil es ihm die Luft abschnürte. Die Türe war ja auch zu, kein Wunder. In dem Mann stieg der Drang hoch, einfach zu flüchten. Der überfordernden Situation zu entkommen, nach draußen, eine Runde Laufen oder halt einfach irgendwohin Anderswo. Einem Ort, an dem er sich nicht wie der letzte, unzulängliche Trottel fühlte weil er immer noch nicht ordentlich mit Menschen umgehen konnte und es auch nie können würde.
Aber Ioan blieb. Es hatte sich nicht viel in ihm, aber ein bisschen etwas um ihn verändert in den letzten Jahren. Während der Konstrukteur zu seiner Schwester an die Türe trat, schlüpfte er in die Handschuhe mit den blauen Kristallen. Mit einem Fingerstreich aktivierte er eine feine Rune am Kristallquader, der zu jeder Zeit an Ioans Hüfte hing. Blaues Elmsfeuer begann, darin herumzuspringen.
Nun erst und nur so war sie sicher, diese Umarmung, in die er Antonia nun zog. Sie war ungelenk und steif und sie währte nicht lange. Auch, wenn der Mann jetzt rein technisch zu solchen Dingen in der Lage war, hieß das nicht, dass Ioan Stanwick sie auch tatsächlich aushielt. Es gab ohnehin einen besseren Weg, um die Schwester zu trösten. Beide Stanwicks hoben ihre Rechten zu jenem alten, geheimen Handschlag aus Kindertagen und zum ersten Mal berührten sie einander dabei.

Kommentare 20

  • Die Handschuhe sind also seine Magic-Art einer Gradin-Berührungsmaschine...:0


    Also wie er aus dem Brunnen emporsteigt hat was unheimliches, sonst finde ich es nur süß. Hoffentlich haben sie Mirabel nicht zu sehr kaputtgezwickt.

    • Grandin ist keine ganz falsche Richtung, aber es ist ein bissl...anderser. :D Dankesehr.

  • Seltsame Geschichte. Nicht wegen des Textes, den du geschrieben hast, sondern wegen der Stimmung, in der er einen zurücklässt. Ich fühle mich auf eine eigentümliche Art befremdet und unwohl. Als wäre einerseits diese innere Unruhe und vermeintliche Unzulänglichkeit von Ioan auf mich übergesprungen, aber auch diese kindliche Ungeduld von Antonia, gepaart mit dem Wunsch, eine Situation aus der Welt zu schaffen, für die ich eigentlich nicht die richtige Person bin.
    Ich möchte die Szene weiterdenken und verspüre ein widersinniges Bedürfnis, zu helfen, obwohl ich die Charaktere gar nicht kenne. Das schafft eine Menge Nähe zu ihnen. Sehr schön geschrieben.

    • Das ist ein großes Kompliment, vielen Dank. Die Charaktere nachfühlbar zu machen, sie dem Leser vielleicht sogar nahegehen zu lassen ist meiner Meinung nach die große Kunst am Rollenspiel, am Schreiben an sich. Dass ich das hier bei dir ein bisschen geschafft habe, macht mich tatsächlich stolz. Auch, äh, wenn es negative Regungen sind, die zurückblieben. Kunst braucht Leiden und so, hrhrh.

    • Ich liebe lebendige, authentische Charaktere. Authentisch ist nicht cool, nicht überlegen oder unantastbar, sondern greifbar, menschlich, emotional ansprechend. Das scheinst du recht gut drauf zu haben. Ich habe z. B. Florean erst drei Mal gesehen und finde ihn sehr "menschlich". Vielleicht gerade, weil ich zu spüren glaube, dass hinter diesem Char eine lange, lange Entwicklung steckt, die du im RP transportierst, ohne einen mit der Nase darauf zu stoßen. Das können nicht viele Spieler. Und auch längst nicht alle professionellen Schreiber.

    • Florean ist, ich weiß gar nicht, vier Jahre alt, glaube ich. Tatsächlich steckt da eine buchstäbliche Odyssee an Charakterentwicklung drin, denke ich an die Anfänge und das Heute. Ich würde sentimental, ließe ich nun Revue passieren, was alles geschah und wer ihn alles dabei begleitet hat. Er ist von allen Charakteren, die ich je spielte, die Figur, die mir am meisten naheging.
      Ich denke, ultimativ ist es auch die eigene Nähe zur eigenen Figur, die es dem Schreiber erlaubt, diese greifbar zu machen. Und der Mut, diese Figur auch gläsern zu machen, sie auf den Tisch zu legen und subtil zu sezieren, egal, wieviel Gekröse und Dreck dabei vielleicht sichtbar wird.

    • Gerade dieses Gläserne ist doch das Spannende. Eine Figur, die nur verputzte Mauer bleibt, geht einem irgendwann auch selbst verloren. Die Risse in der Fassade und das, was man dahinter sehen kann, machen das Spiel mit ihr reizvoll und nachhaltig.

    • Ich sehe, wir verstehen uns. <3

  • "Weinende Menschen hatten keinen Sinn für die Bedürfnisse anderer, hatte man ihm beigebracht."
    Mein Lieblingssatz. Der ist sehr, sehr schön.

  • Eine schöne Chemie, die beiden. Arme Toni...

    • Mit einem Charakter wie Ioan Chemie zu haben ist schwierig, diese darzustellen allerdings fast noch schwieriger. Es freut mich, dass es trotzdem rüberkommt.
      Und von wegen "Arme Toni"....PFAH! :D

    • Du hast es aber gut gemacht!


      Und: Doch! Arme Toni. Ich meine, wer macht denn sowas?

    • Ja, ich weiß auch nicht. ICH WEIß AUCH NICHT! \o/

    • Kann nur ein Fiesling oder ein Idiot sein.

    • Wirf 'ne Münze. :D

  • Ich mag sie sehr! Gerade die beiden zusammen. Gerade der letzte Satz ist so schön herzig. Hach. <3

    • Dankelieb. <3 Es ist ne gute Gelegenheit, zwei Chars mit einer, äh, Klappe zu schlagen.