Über Pendant und Gegenteil

Der Tisch war über und über mit Blumen beladen. In dieser Reichhaltigkeit lag etwas Peinliches, das einen erfasste, wann immer man durch den Flur ins Wohnzimmer kam. Wer den Tisch sah – und er war nicht zu übersehen - fragte sich unweigerlich, ob jemand geheiratet hatte oder jemand gestorben war. Diese zwei Möglichkeiten gab es und nichts anderes hätte den Prunk und Überfluss gerechtfertigt, der sich hier mit Lilien und Narzissen und Rosen und leuchtenden Grabesblumen offenbarte. Denn es war jemand gestorben. Es war schon über eine Woche her, damit war die Frist eigentlich vorbei, das zugedachte Maß an Trauerzeit längst überschritten. Aber es war Besuch aus Löwenstein angerückt, und da Adrian Iorga schon immer ein unweigerliches Faible für Opulenz besessen hatte, war es kein Wunder, dass er es auch diesmal übertrieb.
Jetzt saß er dort mit übereinandergeschlagenen Beinen in seinem perfekten Frack und hielt die sauberen Hände offen, als wolle er irgendeinen Gegenstand aus der Luft an sich nehmen und, obwohl er vorher nicht ihm gehört hatte, zu seinem machen.
„Also jetzt sag mal“, verlangte er von Helena, die ihm, weniger perfekt und mit ungekämmtem Haar, verklärt gegenübersaß. „Was wird so geredet?“
Sie hatten den offiziellen Teil schon hinter sich gebracht. Es war getrauert und getrunken worden. Die meisten waren schon wieder gegangen. Adrian aber war geblieben, hatte sich ein wenig an die vergangenen Zeiten zurückerinnert, die er zu der Zeit, als er Ratsherr gewesen war, in diesem Anwesen verbracht hatte, und verlangte jetzt von seiner Cousine, sich mit ihm ins Sinnieren zu begeben, obwohl sie, das stand ihr eigentlich ins Gesicht geschrieben, kein Bedürfnis hatte, sich irgendwem bei irgendetwas anzuschließen.
„Ja“, sagte sie. „Es wird geredet.“
Adrian, dessen Züge geschliffen waren und von einem Paar übergroßer Augen etwas unheimlich gemacht wurden, starrte Helena lange an. Und dann lachte er humorlos, griff einen Blumenstrauß und haute ihn ihr über den Kopf. Es raschelte, als die Blätter wie Regen zu Boden rieselten. Kurzzeitig regte sie sich. Dann nicht mehr.
„Haha. Adrian.“
„Du bist mir ein bisschen verstockt heute, Helena“, merkte er an, ohne sich von diesem Verhalten selbst anstecken zu lassen. „Was gibt es also Neues? Sorgen die Di Saverios noch für Geschwätz? Haben sie vielleicht mal wieder ein inzestuöses Kind gezeugt?“
„Ach.“
„Ach?“
„Was geht’s uns an, Adya?“
„Na nichts. Warum soll man immer über die Sachen reden, die einen was angehen, anstelle über das, worum man sich nicht sorgen muss. Für heute ist es genug mit der Trübsal, Helena. Entspann dich.“
Sie hörte auf ihn, aber nur in der Form, dass sie ihre Schultern sinken ließ. Nach kurzer Zeit begann sie, die Blüten vom Boden aufzusammeln, bis sie derer genug hatte, Formen damit auf den Stuhl neben sich zu legen, weil auf dem Tisch kein freier Zentimeter mehr war.
„Die meisten Leute kennst du gar nicht mehr“, sagte sie.
„Wie geht’s meinen Schmetterlingen.“
„Sie sind wohlauf. Ich sehe sie kaum. Eigentlich haben sie immer eher dich gemocht.“
„Oder vielleicht habe ich sie auch lieber gemocht als du?“, gab er zu bedenken, ein wenig väterlich, ein wenig jovial, mit einem weichen Mund und einem strengen Blick.
„Hast du nicht.“
Wieder lachte Adrian. Und wieder holte er mit der offenen Hand einen Gegenstand aus der Luft. Jetzt war es erst zu erkennen. Er wies mit dieser Geste auf Helena.
„Was macht Levi? Spielt er sich noch als Retter auf?“
„Über Levi verbiete ich dir, was Schlechtes zu sagen.“
„Achso?“ Adrian, noch in der Mitte der Dreißig, aber er ging mittlerweile deutlich auf das Ende zu, hatte immer noch goldblondes Haar und den famosen Ausdruck eines Mannes, der mittels einiger geschickter Geschäftszüge aus einem Kupferling ein Vermögen zu machen wusste. Sein respektables Genie stimmte einen nachsichtig, wenn er spottete, denn er ließ es immer aussehen, als brächte er einem dabei noch etwas bei. „Dabei hab ich nur Retter gesagt. Das ist etwas Schlechtes?“
„Du hast – aufspielen – gesagt.“
„Wie steht’s mit Gwennis‘ anderen alten Freundinnen?“
„Warum stellst du mir all diese Fragen? Dich interessieren doch nicht Gwennis‘ Freundinnen. Du willst auf etwas anderes hinaus.“
„Du bist nicht zum Reden aufgelegt, wie?“
„Ich bin nicht in der Öffentlichkeit.“ Helena legte aus den Blüten in ihrer Hand ein Herz auf die Stuhlfläche und warf es durcheinander. „Ich muss nicht vorgaukeln, Klatsch zu lieben. Und du auch nicht.“
„Dann zur Sache?“
„Dann zur Sache.“ Und obwohl Helena nur murmelte, schnürte es ihr bei diesem Satz die Kehle zu.
„Du wirst dich warm anziehen müssen, Helena. Ich hab Adeodato neulich, als er mit Lynn bei mir in Löwenstein war, als ziemlich bedenklich empfunden. Dann höre ich von Drohungen. Es wird kalt von verschiedenen Richtungen.“
„Wir haben einen Brief bekommen, dass zuerst die Bauern fallen“, erwiderte sie und rang sich endlich dazu durch, Adrian anzusehen. Er sah aus wie immer. Nur schien er ihr trotz allem ferner zu sein. Als säße einer von ihnen – schwer zu sagen, wer – hinter Glas. „Und seit drei Tagen fehlt unser Ladenwächter.“
„Avram?“
„Nein…Ilja. Du kennst ihn nicht….da stand…die Dame fällt spät, der König zuletzt. Ich frage mich, wer die Dame ist.“
Sie spürte, wie Adrian ihr einen langen, gutmütigen aber gleichzeitig auch unbarmherzigen Blick zuwarf. Ein Blick, in dem, irgendwo, ein unauffindbares Lächeln sich herumtrieb.
„Lynn sagte mir, ihr braucht nichts. Ist das wahr?“ Adrian lehnte sich etwas vor, bis seine Hand ihr Knie berührte. Obwohl es eine keusche Berührung war, stand sie auf und entzog sich sofort seiner unmittelbaren Nähe.
„Ich brauche keine Hilfe aus Löwenstein.“ Helena sprach mitnichten trotzig. Sie hatte etwas ganz Lässiges an ihrem Verhalten. Die Gleichgültigkeit der aktuell Desillusionierten, die grau in grau sahen und keine Muße hatten, sich über irgendwelche Angebote aufzuregen oder zu freuen.
„Du machst keinen Blödsinn?“
„Adrian. Ich bin erwachsen.“
Zur Antwort fiel Adrians Blick auf das zerworfene Herz auf der Stuhlfläche neben Helenas altem Platz.
„Ja“, sagte sie. Sie sah diesen Blick. „Na und?“
Adrian schwieg einen Moment.
„Ich hab gehört“, begann er dann neu, „Kolja ist wieder da.“
„Er und Narcis haben gestern einen toten Warg angeschleppt.“
„Diese Kombination passt.“ Jetzt stand auch Adrian auf, nicht, um Helena hinterher zu gehen. Er interessierte sich mittlerweile gar nicht mehr für sie. Es war immer schon seine Art gewesen, einen Menschen mit Aufmerksamkeit zu überschütten und ihm das Gefühl zu geben, begehrenswert und geliebt zu sein, nur um ihn dann im nächsten Moment zu vergessen. Diese Unaufmerksamkeit war seine größte Schwäche, gleichzeitig aber auch das, was ihm die meisten Anhänger brachte, weil sie ihm immer nachlechzten, um wieder einmal Ziel seines Blickes zu werden und das Feuer des Begehrens von ihm auf sich zu projizieren, sich darüber dann selbst zu lieben. Das war eine billige Liebe, die Helena verletzend fand. Sie verbarg sich davor. Und er ließ sie entkommen.
„Eines noch“, sagte er bei der Tür. „Ein Rat. Ich sehe, du bist getroffen. Lass dir das Herz nicht zu Kopf steigen. Werde nicht sentimental. In dem Augenblick machst du dich selbst zur Karikatur. Depressives Verhalten können sich in dieser Familie nur die Alten erlauben. Und auch nur dann, wenn es mit genug Schrullen ausstaffiert ist.“
„Grüß mir deine Mutter, Adrian.“
„Es wäre wirkungsvoller, würdest du die Grüße meinem Vater ausrichten. Dein Pendant sollte Nicolae sein, nicht Xenia.“
„Mein Pendant wird niemals Nicolae sein. Aber ich nehme ihn gern als mein Gegenteil. Und ein Gegenteil grüßt man nicht.“
Diese neue Regel lag ein paar Sekunden zwischen ihnen. Adrian belächelte sie nachdenklich.
„Nun“, sagte er dann und ging fort.

Kommentare 19

  • Nie viel von Adrian gehört, die ersten Zeilen wirkte der noch ganz nett. Erst dachte ich sie ist einfach nur nicht freundlich zu ihm, aber wie man sieht hat das Gründe...besonders ab dieser...Liebesentzugsstelle, die sie gleich durchschaut und einordnet.
    Helena wie immer top.

  • Wieder einmal eine sehr starke Geschichte und ein toller Einblick. Ich weiß, warum ich Adrian nicht mag. Und gerade deshalb finde ich ihn großartig! XD

  • Ich mag die gemeinsame Dynamik beider Charaktere sehr. Denn meiner Einschätzung nach gibt es in der Familie kein so annähernd deutlichen Beispiel, in welchem Machtspiele, Frontstellungen und andere Facetten des Geschäfts, ihre Schatten so intensiv auf einst (relativ) gute und solide Familienbeziehung zwischen zwei Mitgliedern geworfen haben.


    Man könnte sagen, sie seien einfach erwachsen geworden und haben sich auf ihrem Lebensweg einander entfremdet, doch sind die Umstände dafür besonders.

    • Ich bin stolz und gerührt von der Beobachtung. Weil du es irgendwie nachträglich erfühlt hast. Du warst zu Adrians Zeit ja leider noch gar nicht richtig dabei und kennst ihn nur ein wenig. Deshalb freut es mich umso mehr, sowas dann zu lesen. Danke.

    • Als Asura weiß und erahnt man eben alles. So war es und so wird es immer sein =)

  • Ich finde deine Charaktere und deine Geschichten echt toll! Nur um es mal gesagt zu haben :D

    • Und mich freut es wirklich sehr. Danke. Ich bin ein Mensch, der sich selbst nicht zufriedenstellen kann und deshalb ist es für mich tröstlich, wenn wenigstens andere zufrieden mit mir sind =D

  • Ich finde Helena stark. In dem Fragment hier besonders. Sie ist einzigartig.

  • Ach, Lenochka.


    Wie geil du Adrian beschreibst. Gruseliger Typ.

    • Vielen, vielen Dank. Kolja hat so ein Klischeebild von Adrian als dem friendly Guy, der einem vorwarnungslos dreimal mit dem Messer ins Gesicht sticht. Das ist mittlerweile ein Running Gag bei uns.

    • Um so spannender ist es ja jedesmal, mal auf das "Dazwischen" gucken zu können.

  • Eigentlich schade, dass man so wenig miteinander zutun hat. Ich lese die Geschichten von dir sehr gern. Und irgendwie tut mir Helena leid.

    • Oh, vielen Dank. Ja, ich weiß nicht, wir haben irgendwie _so wenig_ Berührungspunkte. Das ist keine Absicht! =D

    • Jaaaa.. Das mit den Berührungspunkten kenne ich. :/

    • DU HASST MICH JA AUCH =D "Die Iorgas waren mir sympathisch, dann kam Narcis" =D