Der König stirbt zuletzt

Der Name Nicolae Iorga löste in Löwensteiner Kreisen keinen Schrecken aus. Das war, weil die meisten ihn nicht kannten. Als Oberhaupt des geschäftlich erfolgreichsten Familienzweiges der Familie Iorga war öffentliches Auftreten für ihn keine Bedingung. Er konnte es sich erlauben, abseits des gesellschaftlichen Rauschens und Tosens zu leben, als ein König in einem untergründigen Palast, der nur eine Hand voll Hofleute um sich brauchte und den Rest von rechter und linker Hand, körperlich andere Personen, dirigieren ließ. Er musste es sogar, denn seine Geschäfte waren derart pikant, er selbst hatte seine Position in einen derartigen Taumel von Unantastbarkeit erhoben, dass die Zahl derer die ihn fürchteten so hoch war wie die jener, die ihn tot sehen wollten. Meist sah man ihn allerdings gar nicht. Es gab vielleicht fünf, vielleicht sieben Menschen, die er zu sich vorließ. Manchmal ließ er nicht einmal seine eigene Familie ein. Er verabscheute das Ordinäre, er führte ein grausames Regime. Er war ein großer Mann und dadurch, dass man ihn nicht sah, gewann er in den Köpfen der Leute, die von ihm wussten, im Laufe der Jahre seiner Regentschaft mehr und mehr das Aussehen eines Schreckgespenstes. Nicolae Iorga war ein Unternehmer, er investierte in das Skrupellose im Menschen. Ein Geschäft, das ausnehmend gut verlief, das ihm zu außerordentlichen Wohlstand verhalf. Und selbst, wenn kaum einer sie zu Gesicht bekam, trug er nur die besten Anzüge, rauchte nur die besten Zigarren, scheute kein Risiko und trauerte um keinen Menschen. Nicolae war das Antlitz des Erfolges. Kein Wunder, dass so wenige es dauerhaft erblickten. Er gönnte niemandem längerfristigen Ruhm als sich selbst, nicht, wenn es um seine Domäne ging. Nicht einmal seinem Sohn. Nicht einmal seiner Nichte.
Nicolae Iorga traf man nicht auf der Straße. Es wurde ja schon gesagt, dass man ihn in aller Regel überhaupt nicht traf. Deshalb wohl verschlug es Helena in aller Form, von der Lunge bis zur Kehle, den Atem, als er ausgerechnet in Götterfels, ausgerechnet in Rurikstadt aus einer Seitenstraße auf sie zutrat.


Sie hatte das Pfandhaus schon fast erreicht und hätte ihn beinahe übersehen. Aber da war etwas an ihm, das man nicht übersehen konnte.
Anstelle etwas zu sagen, starrte sie ihn blässlich an, bis ihr einfiel, dass er nicht ohne Grund hier stehen konnte. Ihre nächsten Blicke schossen in alle Ecken, wähnten seine Mörder in der Nähe, die ihretwegen gekommen waren. Aber niemand war da außer ihm. Natürlich ging es nicht mit rechten Dingen zu. Das musste etwas Außerordentliches bedeuten. Nicht einmal Adrian bequemte sich oft hierher. Doch Nicolae…und nur zwei Tage nach Tulio Libanez' Tod. Ihr wurde grau im Herzen.


„Das Pfandhaus.“ Nachdem der Mann ihr einen Moment mit seinem Blick die Luft abgesogen hatte, drehte er sich dem Gebäude zu und sah nur noch die Fassade des alten Hauses hinauf, die Helena nie gestört hatte, und die ihr plötzlich peinlich ungenügend vorkam, zersprungen und zerkratzt, aber es hatte, bis jetzt, nie eine Rolle gespielt. „Es hat eigentlich Cionar gehört, nicht wahr? Bis du es einfach übernommen hast.“
Helena schwieg für den dumpfen Schlag, den die Worte, die sie hörte und der Sinn, den sie hineinlas, in ihrem Kopf auslösten.
„Er hat sich darüber nie beschwert“, sagte sie. Er hatte nicht gegrüßt. Seine Zeit ging nicht an Floskeln verloren. Und sie wünschte ihm keinen guten Tag, um nicht mit einer Lüge zu beginnen.
„In der Tat“, sprach Nicolae vor sich hin. Helena sah in seinem blonden Haar graue Strähnen flimmern. Es war Tag und sie war dankbar dafür. Einzig das Sonnenlicht machte jetzt noch den Unterschied zwischen einer unheimlichen Szene und einem Alptraum. Sie empfand Ekel, Angst und Verblüffung und über alledem eine nicht in Worte zu fassende Sorge darüber, dass er ihr hier erschien. „Er arbeitet für mich. Du hast es wohl als deinen Anteil an seinem Geschäft abgerechnet, das er zweifelsohne in die Familie mitbrachte, als er – aber halt. Er hat dich nicht geheiratet. Er hat dich vorher verlassen.“
„Er hat die Initiation gemacht. Er gehört zur Familie.“
Obwohl sich Helena mit jeder Sekunde quälend fragte, wie es sein konnte, dass Nicolae hier bei ihr war, lag nichts ferner, als die Frage an ihn zu richten. Es stand ungeschrieben fest, dass er sprach und sie antwortete. Und wie sie es auch ändern wollte, es ging nicht.
„Dann gehen wir hinein“, beschloss Nicolae, trat zur Tür, und wartete. Sein Anzug saß an ihm wie eine zweite Haut, er war überaus edel, schwarzblau mit feinen Pelzbesätzen und Manschettenknöpfen aus Platin. Sie wollte ihn nicht ins Haus lassen. Als sie aufsperrte ging er voran.
Zwar sah er sich um und blieb mit den Augen sogar an einem oder zwei Gemälden hängen, aber sowie die Tür hinter Helena zuging, fiel auch von Nicolaes Gesicht jedes Interesse für das Sortiment.
Helena hielt sich dicht an der Tür. Mit verschränkten Armen lehnte sie dagegen, als wolle sie ihm den Fluchtweg abschneiden, obwohl es wahrscheinlich so war, dass sie nur sich selbst einen freihielt.
„Du hast immer schon Geschichten gemocht, Helena. Soll ich dir eine erzählen?“
Die erste freche Antwort brannte ihr auf der Zunge. Sie schwieg. Nicolae war glatt rasiert. Ihm haftete trotzdem das schrammige Kaliber eines Bartträgers an. Für eine Schlange oder einen Aal war seine Couleur zu schroff. Mit dem Daumen fuhr er sich übers Kinn. Er nahm ihre ausbleibende Antwort als Selbstverständlichkeit.
„Ich hatte in meinem Bekanntenkreis ein Mädchen. Ein verträumtes, selbstverlorenes Geschöpf, das zwischen zwei Wünschen zerrissen war. Einmal wollte sie Prinzessin sein und träumte nichts weiter, als wie jedes Mädchen ohne Sorgen in den Armen eines Prinzen zu liegen und von ihrer Familie und allen Menschen geliebt zu werden. Auf der anderen Seite eiferte sie ihren Brüdern nach und wollte, wie ein Mann, Geschäfte machen, harte Entscheidungen treffen und die Verantwortung für ein gesamtes Regime tragen. Sie sah diesen zweiten Weg natürlich aus der verklärten Sicht eines kleinen Mädchens, harmlos und mit falschen Vorstellungen verschleiert. Man hätte sie davor beschützen müssen. Das hat nur keiner getan. Ein unverzeihliches Versäumnis ihrer Brüder. Als sie sich entscheiden musste, ist sie weder links noch rechts gegangen. Sie hat sich in den Spagat gedrückt, hängt da immer noch in der Luft. Jeder, der sich tief genug bückt, kann ihr unters Röckchen schauen.“
„Es reicht.“
„Helena, ich biete dir hiermit an, zu tun, was keiner sonst für dich getan hat. Du warst damals so klug, meinen Sohn um Hilfe zu rufen. Leg ab, zu was du nicht imstande bist. Überlasse die Geschäfte den Männern und du wirst leben wie eine Prinzessin.“
„Oder was?“ Helena war, ohne es zu wissen, von der Tür weggetreten. Ihre hohen Wangenknochen, die Wahrzeichen ihres Gesichtes, glühten und fühlten sich gleichzeitig eiskalt an.
„Es ist ein schönes Pfandhaus. Ich freue mich, dass die Familie so gut in Götterfels zurechtkommt. Grüß mir meine liebe Familie Libanez. Ich habe gehört, sie sind unverzichtbar für dich.“
„Du Bastard. Raus. Raus!“ Sie schüttelte sich und innerlich weinte sie vor Zorn. Äußerlich hielten sie nur Unglaube und Wille zusammen. Tatsächlich ging Nicolae zur Tür, als sie darauf zeigte, wenn es auch aussah, als täte er es nicht deshalb, sondern weil er fertig mit ihr war.
„Warst du es?“, warf sie ihm noch hinterher. „Hast du auf mich geschossen?“
„Nun, wenn es so war“, schnarrte er und blieb noch einmal stehen. „Habe ich ein Verlustgeschäft gemacht.“
Es war eine neuerliche Anspielung. Eine Anspielung auf die Familie Libanez und darauf, dass sie in Wahrheit alle nur ihm ergeben waren. Helena hatte sich den Feind ins Haus geholt, wollte er sagen, und war unverbrüchlich mit ihm verwachsen. Das war seine Botschaft. Das war seine Lüge. Es war doch eine Lüge. Sie wusste es nicht.
„Komm nie wieder her! Du bist hier nicht willkommen.“
„Überlege es dir, Helena. Ich habe dich nie gern weinen sehen. Ich wünsche mir, dass Pauls Tochter glücklich ist. Ich hoffe, du bist Pauls Tochter und nicht Victors.“
Nicolae Iorga lachte. Sie hörte ihn zum ersten Mal lachen. Und die kommenden Tage und Nächte, bis zu jenem Herbstabend, an dem sie beschloss, das Trauerschwarz nicht mehr abzulegen, lachte er in ihrem Verstand weiter.


„Ich sage: Wir stürzen Nicolae.“ Mit dem sanftesten Blick nahm sie einen Apfelschnitzen von ihrem Vetter Kolja und legte ihn wie ein Grinsen an ihren Mund. „Es geht nämlich nur darum, wer zuletzt lacht.“
Es störte sie nicht, dass weder ihr Bruder noch Kolja ihr folgen konnten.

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