Die Metaebene familiären Humors

Als Narcis spät abends nach Hause kam, hörte er Gelächter aus dem Wohnzimmer. Es waren nur zwei oder drei Stimmen, die da lachten, diese aber lachten so intensiv, dass er sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dort würde irgendeine Komödie aufgeführt. Es musste etwas unglaublich Lustiges im Gange sein, er mochte Lustiges und in der Diele war niemand, den er fragen konnte, also ging er und traf Helena an. Mit ihr am Tisch verteilt saßen ihr Bruder Ilie und ihrer aller Cousin Kolja, außerdem stand dort eine große Platte mit Obst und Naschwerk und sie alle hatten verschiedene Getränke.
„Was ist denn hier los?“, fragte Narcis, als er reinkam.
Vorhin hatte Helena allen Bescheid gesagt, dass Victor und Claire für eine Weile ins Anwesen einziehen würden. Daraufhin hatten sich Alexej und Lynn zurückgezogen und Helena hatte über Vito ausrichten lassen, dass sie nicht mehr gestört werden wollte. Durch diese Aussage und den Besuch des Doktors Beaufort wenige Stunden vorher, der sich versichern hatte wollen, ob es Helena „wieder besser ginge“, war Narcis zu dem Schluss gelangt, dass irgendetwas nicht stimmte. Und jetzt saß sie hier, lachte und bewarf ihn mit einer Weintraube, kaum, dass er zur Tür hereinkam.
„Hallo Sissi!“, begrüßte sie ihn mit der gesamten Wärme eines von Natur aus spöttischen Menschen.
„Oh großer Siset!“, stimmte Kolja in seinen alten Scherz mit ein und wärmte ihn auf wie eine Suppe, die schon beim ersten Mal eher fad gewesen war, ihm aber zu schmecken schien. „Blicke auf uns herab und erhöre uns, aufdass die Königin bald ein Kind bekomme!“
„Was redet ihr da eigentlich für einen Blödsinn?“ Ilie war der Einzige, der die Anspielungen nicht verstand und auch nicht intuitiv nachvollziehen konnte. Er glotzte von einem zum anderen und hob dann die Weintraube auf, mit der Helena Narcis beschossen hatte. Er aß sie.
„Er hat Recht“, sagte Narcis. Ohne die Situation einordnen zu können, warf er sich doch mitten hinein, indem er an den Tisch trat, eine Praline nahm und sich Wein einschenkte. „Was ist so lustig?“
„Wir haben uns nur gerade unsere Gedanken gemacht“, antwortete Helena. Ein Licht fiel aus ihren Augen. Es war das fiebrige Glitzern irgendeines Unsinns, einer Absurdität etwa, derer man sich plötzlich bewusst wurde, und die einen dann entgegen aller Vernunft vollkommen einnahm und zum Lachen brachte, selbst wenn man besser beraten wäre, sich Sorgen zu machen. Narcis war erstaunt, etwas ganz Ähnliches auch in Koljas Gesicht zu sehen und in Spuren sogar in Ilies.
„Wir haben uns gerade überlegt“, fuhr seine Cousine fort, strich sich mehrmals durch ihr blondes Haar und schob sich wie ein Goldhamster eine Praline in die Backen, was deshalb so erstaunlich war, weil sie stets nachdrücklich behauptete, Süßigkeiten nicht das Wenigste abgewinnen zu können. Dass ihre Aussprache dadurch geringfügig undeutlicher wurde, passte auffällig gut zu dieser seltsamen, fast hysterisch ausgelassenen Stimmung im Raum. „Wir haben uns überlegt, dass wir Nicolae eigentlich niemals besiegen können.“
Er hatte mit vielem gerechnet, mit allem Möglichen eigentlich.
„Was?“
Damit nun aber nicht unbedingt.
„Warum nicht? Was ist daran so witzig?“
„Geh es mal in Gedanken durch“, rief Nikolaj belustigt, kam aber nicht weiter, weil Helena ihm sofort das Wort abschnitt.
„Wenn wir Geschichten oder Theaterstücke wären, wären wir ein ganz unterschiedliches Genre. Löwenstein wäre so ein bedrückender Schwerverbrecher-Epos. Und wir das reine Schmierentheater.“
„Wie bitte…“
„Na, wer soll ihn denn besiegen?“, rief Helena frohgemut, ohne die mindeste Rücksicht auf Narcis‘ Verwirrung zu nehmen. Alles erschien, als wäre es Koljas Grundgedanke gewesen, den sie aufgeschnappt und gemeinsam ausgebaut hatten, und an dem sie sich ergötzten, obwohl es daran nichts gab, nicht einmal einen Krümel, der tatsächlich erfreulich war. „Ich mit meinen missglückten Romanzen? Oder Kolja, der zwar draufhauen kann, aber nichts kapiert?“
Nikolaj lachte fröhlich mit und hörte, als es um ihn ging, mit kleiner Verzögerung auf.
„Hey. Was heißt hier, ich kapiere nichts?“ Dann fuhr er jedoch selbst fort: „Oder Ilie, dieser Glotzfrosch?“
„Hey“, murmelte jetzt Ilie, der sich weiter nicht an dem Gespräch beteiligte, als ab und zu den Kopf zu schütteln und etwas zu murmeln.
„Du und Banel ja wohl jedenfalls auch nicht“, entschied Helena.
Narcis hob verständnislos beide Hände in die Luft. „Warum nicht?“
„Alesha, bei dem man nie sagen kann, ob er nicht mitten drin verschwindet?“, redete Kolja schlechterdings weiter ohne sich mit der Beantwortung irgendwelcher ernstgemeinter Fragen zu belästigen. „Oder Lynn, die eigentlich viel zu lässig dafür ist.“
„Ich glaube, du tust ihr Unrecht“, warf Narcis ein, ohne beachtet zu werden.
„Oder vielleicht Victor mit seiner unsichtbaren Armee.“
Kolja gestikulierte mit einem Strunk Weintrauben in der Hand.
Helena hatte vielleicht vorgehabt, Narcis tatsächlich etwas Brauchbares zu erwidern, aber sie war gerade wie ein kleines Kind, das sich von allem ablenken ließ. In diesem Fall von Nikolaj.
„Wir können ja Victors unsichtbare Armee gegen Nicolaes unsichtbare Armee antreten lassen“, erfand sie.
Narcis grub die Hand in sein Haar und ließ sie dort ruhen. Er war erschüttert über so viel Selbstironie und starrte aus charakterstarken, doch vollständig verwirrten Augen seine Verwandten an; Helena, die im Schneidersitz auf dem Stuhlpolster saß, Kolja, der mit den Zähnen Weintrauben vom Strunk fing, Ilie, der seinen Hund Ganymed streichelte, der irgendwo unter dem Tisch lag. Gleichzeitig stand es seiner Familie gut zu Gesichte, sich selbst nicht übermäßig ernst zu nehmen, auch wenn er sich nicht erklären konnte, woher es plötzlich kam.
„Und dann das halbe Haus voller Libanez.“ Er fühlte sich schließlich ermutigt, diesen kleinen Umstand den Argumenten hinzuzufügen, die bereits genannt wurden. Es wurde tatsächlich gut aufgenommen.
„Wir sind erledigt“, lachte Helena nämlich und stand im nächsten Moment beschwingt auf, um neuen Wein nachzuschenken.
„Am Ende kommt wahrscheinlich Cird und rettet den Tag“, behauptete Kolja, kurz bevor er Helena euphorisch den Wein abnahm, den sie zum Tisch brachte.
„Alter“, murmelte Ilie. „Wehe.“
„Hey!“ Helena entriss Nikolaj den Wein wieder. „Der ist für Narcis. Du trinkst doch gar keinen.“
„Siset! Labe dich an diesem Opferwein und bringe uns Wohlstand!“, erwiderte Kolja mit großer Stimme.
„Wir sind also ein Schmierentheater?“ Narcis, angesteckt mit einem feinen Lächeln, nahm den Wein von Helena entgegen.
„Ja“, sagte sie. „Das ist vor allem meine Schuld.“
„Na, wir sind schon alle ein bisschen Schuld.“
„Wenn Cird den Tag rettet“ – Ilie hing in Gedanken noch woanders fest – „mach ich ihn fertig.“
„Wenn Cird den Tag rettet, versaue ich ihn euch wieder, weil ich nicht damit zurechtkomme, dass er mich sitzen lassen hat“, resümierte Helena, trat hinter ihren Bruder, schlang ihm den Arm um den Hals und küsste ihn auf die Wange.
„Aha“, machte Narcis, griff sich ein paar Weintrauben, nahm den Wein mit - beide Gläser - und schlenderte die Treppe hoch, ohne sich der kleinen Festlichkeit auf Kosten von allem und jedem noch anzuschließen.
„Was denn, Narcis?“, fragte Helena ihm nach. Er hörte, dass sie noch spaßestrunken war. Aber ein bisschen Wahrheit war schon daran. Er schmunzelte, drehte sich aber nicht mehr um.
„Wir sind im Arsch.“

Kommentare 11

  • "Wenn wir Geschichten oder Theaterstücke wären, wären wir ein ganz unterschiedliches Genre. Löwenstein wäre so ein bedrückender Schwerverbrecher-Epos. Und wir das reine Schmierentheater."


    Ein wunderbarer (beinahe-)Durchbruch der vierten Wand(?). Ich weiß nicht, wie man es genau nennen kann, doch für mich der dezisive Blickfang in dieser Geschichte! :D

  • Ah. Danke Mann @ all

  • "Er glotzte von einem zum anderen und hob dann die Weintraube auf, mit der Helena Narcis beschossen hatte. Er aß sie." XD <3

  • Hehehehahah! Sie können Banel zum Blumen schenken vorbeischicken, vielleicht stirbt Nicolae dabei ausversehen. Helena First.


    Doch der Titel ist zugegebenermaßen voll akademisch/bourgeois/interlektüll! :p

  • Sehr schön zu lesen! Ich hab ein sehr dickes Grinsen im Gesicht.

  • Alter, sowas von :D

  • Ihr seid hinreißend. :D :D

  • Cird redet den Tag?

    • Das fiel mir dann auch auf. Ich hab es aber schon geändert. Das war vermutlich Freud. Wenn Cird redet, versteht nämlich nie einer, was er meint =)

  • Großartig! :D