Ein neuer Morgen

Es ist still im Hain. Ruhig und friedlich. Träge ziehen die Wolken über das Land, verdecken hier und da die Sicht auf die Sterne. Ein paar Funkler fliegen auf den untersten Ebenen des Haines umher und bringen so den Sternenhimmel in greifbare Nähe.


Zu jeder Tages- und Nachtzeit sind Geschwister von wach. Und doch ist es nachts ruhiger, als tagsüber, wenn das Leben zu pulsieren scheint. Die Nacht scheint eine Zeit der Stille und Einkehr zu sein. Die Nacht gehört den Gedanken, die man hat und die man mit niemanden teilen möchte. So langsam versteht Ayu, warum Nachtgeborene so schweigsam sind.


Aber Ayu ist keine Nachtgeborene und auch wenn sie über die Jahre gelernt hat, ihren eigenen inneren Rhythmus zu ignorieren, so ist die Nacht nicht ihre Zeit.


Als sie erwachte, hatte sie Angst vor der Nacht. Angst vor der Dunkelheit. Angst vor der Stille die sie nicht einschätzen konnte. Ayu hatte vor alles und jeden Angst.


Mit der Zeit bekam sie diese Angst in den Griff. Und heute ist sie fasziniert von der Nacht. Nachts sieht alles anders aus, als tagsüber. Ein Großteil der Welt, die sie schon sehen durfte, sieht nachts vor allem grau und farblos aus. Die ganze Welt scheint ein einziger Schatten zu sein. Ein einziger Rückzugsort, wenn man ungesehen sein möchte. Die Nacht gehört den Geheimnissen. Auch im Hain, wie sie festgestellt hat.


Aber die Nacht ist im Hain nicht finster und grau. Nachts erwachen Lichter zum Leben, die tagsüber langweilig und unauffällig wirken. Sie erleuchten den Hain in schillernden Farben. Das Licht der Funkler lässt Schatten tanzen während sie sich gegenseitig in ihrem Tanz umkreisen. Leuchtblumen an jeder Ecke vertreiben die Dunkelheit und verleihen dem Hain eine einzigartige Atmosphäre des Friedens und der Sicherheit.


Jenes Leuchten hat Ayu immer am meisten fasziniert. Ein Leuchten in der Dunkelheit. Lichter, welche die Finsternis vertreiben. Helle Punkte in all der Schwärze, die ihr eine Orientierung geben.


Ayu ist keine Nachtgeborene.


So sehr sie sich auch bemüht, sich in jene Geschwister hineinzuversetzen, so gelingt es ihr bestenfalls nur zum Teil. Sie kann vielleicht ihre Schlafgewohnheiten ändern, aber näher kommt sie ihnen dadurch nicht. Sie kann sich in die Schatten drücken, um nicht gesehen zu werden. Aber eigentlich fühlt sie sich dadurch nur einsam. Sie kann sich von den Sternen leiten lassen, aber eigentlich macht das Licht der Sterne sie blind für ihre Umgebung.


Mit ruhigen und tiefen Atemzügen sitzt sie da, auf der bemoosten Erde, umringt von Blumen, Kräutern undGras. Ihre Augen sind seit Stunden geschlossen und obwohl Körper und Geist erschöpft vom Tag sind, findet sie keinen Schlaf. Sie hat einen Fehler gemacht. So viele Fehler schon. Zweifel sind nicht dienlich. So oft schon hatte sie gezögert – gezweifelt.


Sie hat es wieder getan. Sie tut es immer noch. Immer wieder. Hatte sie die falsche Wahl getroffen? Hat sie sich zu lange treiben lassen?


In diesem Moment weht eine sanfte Briese durch den Hain. Er fährt durch ihr Blatthaar, hebt es an und lässt es einen Moment lang tanzen. Er umschmeichelt ihre Haut, lässt sie kurz frösteln, als stecke eine tiefe Bedeutung – eine unumstößliche Wahrheit – darin. Weiter wandert die Briese, lässt die Blaue hinter sich und umspielt die Windglöckchen im Zentrum des Haines. Zarte Töne, nicht lauter als ein Windhauch und so zart und lieblich wie die ersten Frühlingsknospen, werden durch den einen Windhauch entlockt. Sanft erklingt die Melodie – wie so oft im Hain, wenn man nur hinhört – breitet sich aus und erfüllt die Zuflucht der Sylvari mit der Melodie des Mutterbaums. Sie dringen bis an Ayus Ohr und erfüllen ihr Herz gleichermaßen mit Melancholie und Zuversicht.


Hab keine Angst vor dieser Nacht. Du wirst nicht verloren gehen.

Langsam öffnet sie ihre golden-gelben Augen. Nur um sie überrascht aufzureißen, als sie den Anblick, der sich ihr in diesem Moment bietet, bemerkt. Wie lange hatte sie hier gesessen und gegrübelt? Die ganze Nacht etwa? War es am Ende notwendig, Abschied von der Nacht zu nehmen?


Sie hatte gelernt, die Nacht nicht länger zu fürchten. Sie hatte sogar gelernt, die Nacht lieben zu lernen.


Aber sie war ein Kind des Morgengrauens und obwohl sie als solches schon unzählige Sonnenaufgänge gesehen und bewundert hat, so erscheint ihr dieser so klar und rein, als wäre es ihr erster. Dabei hatte sie ihren tatsächlichen ersten Sonnenaufgang beim Erwachen verpasst, als sie in blinder Angst davonlief.


Für einen Moment fühlt sich Ayu seltsam zufrieden, während sie beobachtet, wie die Sonne sich langsam, aber unaufhaltsam immer höher schiebt. Die grauen Schatten weichen dem aufkommenden Licht des Tages, das der Welt ihre Farben zurückgibt. Sterne verblassen, als ein beeindruckendes Farbspiel von rot, orange und rosa an ihre Stelle tritt und Himmel und Wolken so bunt färben, wie das Leben selbst. Schon beginnen die ersten Sonnenstrahlen das Land zu erwärmen. Erste Nebelschwaden ziehen auf, verhüllen das Land wie ein Geistermeer und hinterlassen klaren, frischen Morgentau für die ersten Frühaufsteher des Tages.


Es ist nicht der erste Morgen, den sie sieht. Aber es ist der erste Morgen, den sie fühlt.


Und wie jeder Morgen bietet auch dieser eine Fülle an Möglichkeiten.


Langsam steht Ayu vom inzwischen taunassen Boden auf, streckt die taub gewordenen Glieder aus und massiert ihnen langsam wieder etwas Leben ein. Während die ersten Vögel zwitschernd erwachen und im Morgentau baden, betrachtet Ayu noch lange die aufgehende Sonne, das erwachende Land und mit jedem Atemzug, fühlt sie die Zuversicht in ihrem Herzen erstarken.


„Keine Angst vor Schwierigkeiten. Harter Boden stärkt die Wurzel.“


Kommentare 4

  • Ayu und ich Vorliebe für die Nacht.
    Eine sehr schöne Geschichte. Ich hoffe wirklich das sie findet, was sie braucht und sich wünscht.
    Und ein Sonnenaufgang ist ein guter Anfang.

    • Ich freue mich sehr, dass du sie gelesen hast <3
      Ich bin gespannt, wohin das Blümchen als nächstes geweht wird.

  • Ich mag wie die Musik der 'Turmuhr' vom Hain eingepflegt worden ist. Wobei die Textstelle im Deutschen irgendwie etwas sperrig klingt.^^


    Ansonsten kann man sich schön in den seltenen, mal völlig bewusst wahrgenommenen Beginn eines Morgens reinfühlen.

    • Ja, die deutsche Übersetzung von dem Lied klingt wirklich nicht so sehr harmonisch wie das Original. Wollte da nun aber auch nicht ins englische wechseln.
      Freut mich aber, dass meine kleine Morgengrauen-Beschreibung gut rüber kommt :)