Sicherheit durch Obskurität - zweiter Teil

„Scheiße.....scheiße....“
Helena rumpelte schnurgerade gegen den Holzpfosten, der schon immer vor der Treppe zur Wunderlampe gestanden hatte. Sie tat es mit einem Gang, der für eine Betrunkene zu beflissen war, musterte den Holzpfeiler und setzte ihren Weg in die Innenräume des Gasthauses gleich verblendet wie zuvor fort. Nachdem sie Hugh, dem Wirt, in einer energischen und vorschnellen Art viel zu viel Geld entgegengedrückt und ihn wie einen gierigen Hund hingestellt hatte, ohne dass er sich dieses Vorwurfs durch sein Zutun verdient gemacht hatte, stieg sie mit einem Glas Kartoffelschnaps die Hintertreppen zum Balkon hoch.
„Wann wirst du der Stadt den Rücken kehren?“, murmelte sie ihrem Glas entgegen. Sie ahmte Worte nach, das hätte jeder gehört, nur hörte sie keiner, weil sie unterwegs ausschließlich mit sich selbst sprach. „Die Stadt hat dich nicht verdient. Wann wirst du der Stadt den Rücken kehren?“ Manisch und besessen wie das Kind, das nichts kennt als die Welt seiner Fantasie und Gedanken, flüsterte sie die fremden Worte mit ihrer eigenen Zunge und verpasste ihnen den Schlag von Ächtung und Polemik, die auch in ihrer Armbewegung steckten, als sie, angelangt auf dem Balkon, aufzog und das Glas auf die Mauer ihres eigenen Lagerhauses zuschleuderte.
„Am Fick-dich-ins-Knie-Tag, Cird!“
Sie traf keineswegs. Das Glas zersprang weit vorher auf dem Bodenpflaster. Weil es gar so unbefriedigend war, überlegte Helena, noch einen Stuhl hinterherzuschmeißen. Als sie ihn aber, um kein Hausverbot zu riskieren, durch das halbe Stockwerk dem hinteren Balkon entgegen getragen hatte, ging ihr den Unfug ihres Unterfangens siedend heiß auf. Sie stellte den Stuhl vor das nächste Gastzimmer und trat zurück nach unten, wo ihr Levi begegnete. Es konnte nicht schaden ihn zu umarmen, rechnete sie sich aus, ging dabei halb nach Gefühl, halb nach Statistik.
„Ich hasse es!“, erzählte sie seiner Brust. „Ich hasse es! Dass die Vergangenheit so eine unheilige Macht hat. Dass sie einem immer gleich drei Zähne aus statt nur ein blaues Auge schlägt.“
Levi hielt schweigend seinen Arm um sie gelegt. Sie hielt es in der Nähe nicht lange aus. Es gab fast keine Umarmung, aus der sich Helena nicht schnell wieder zu lösen versuchte. Als ihr Vetter fragte, was gewesen sei, erzählte sie ihm von Cird und legte dar, dass ihn zu sehen sich anfühlte, als würde jemand Sandburgen zertreten.
Daraufhin wechselte sie das Thema vehement. Und bald fand sie sich in einer Situation, in der sie selbstvergessen, das Gesicht dem Lichte zugewandt, mit Levi scherzte, obwohl sie sich dabei über Angelegenheiten unterhielten, die andere Menschen bestenfalls nachdenklich, schlechtestenfalls ängstlich zurückgelassen hätten.
Sie erzählte ihm, dass eine Gruppe Verkleideter beim Meridian Süßes-oder-Saures-Taschen abgegeben hatte, die aber nur Saures enthielten. Und sie ließ sich über den Namen Sophien Balzac Aily aus, der zu einem Mann gehörte, der behauptete, ein Bote zu sein, und nicht den Anstand hatte, auch wie einer zu heißen. Sie fragte Levi nach diesem Mister Reaves und seiner Begleitung, die Süßigkeiten verteilt hatten, doch er bezweifelte, dass beide mit den Geschehnissen am Meridian zusammenhingen.
Auch Helena glaubte dies nicht. Nichtsdestotrotz war jener Reaves, den Victor sofort zu sich gebellt hatte, als es darum ging, eine Wache für seine Frau Claire zu finden, für sie eine unheimliche Gestalt. Er hatte diese Außergewöhnlichkeit im Blick. Und er versuchte, es zu verstecken.
Aber sie hatte gesehen, dass er einen Menschen ansah wie Kolja. Kolja, der lange schwieg, beobachtete und nichts sagte und dann, wenn es sein musste, einen zielgeraden Schlag auf den Kehlkopf austeilte. Ihr war aufgefallen, dass auch Ghabriel Reaves ihr nicht ins Gesicht gesehen hatte.


„Es kostet mich allmählich Beherrschung, nicht zu handeln wie früher“, sagte Helena mit einem Blick in Levis Augen. „Du und deine Gutmensch-Nummer.“
Allein, dass sie diese Warnung aussprach, bedeutete, dass gegenwärtig keine Gefahr drohte. Vielleicht war das auch ein Trugschluss.
„Ich bin ganz froh, dass gerade kein Jahrmarkt ansteht.“ Levi frotzelte.
Helena hatte ganz vergessen, dass er dabei gewesen war, als Helena vor Jahren dem Söldner Drair den Zuckerwattespieß in den Hals gerammt hatte. Es hatte Drair nicht geschadet. Gewissermaßen war das sein Aufnahmeritual in die Familienkreise gewesen. Einen Moment jedenfalls war sie geschockt, dass er damit anfing. Dann lachte sie.
„Ach komm! Ich wusste nicht, dass....das ist unfair!“
Und da ihr Gespräch bereits eine ungestellte Richtung eingeschlagen hatte, fragte sie nach Levis Wissen über den Mann Beaufort, der nach eigener Angabe für die Brücke arbeitete, und an dem Helena eine Eigentümlichkeit aufgefallen war. Ob Levi ihn irgendwie seltsam fände, wollte sie wissen:
„Er taucht jeden Tag auf. Und egal, wen er trifft, er tut stets so, als wollte er eigentlich zum anderen.“
„Ich weiß nicht viel über ihn“, erwiderte Levi. „Ich weiß nur, dass er ein guter Arzt ist. Ich kann nichts Schlechtes über ihn sagen, ich habe auch nicht viel mit ihm zu tun. Er war sehr lange beim Schnitzfest und er hat ein gutes Benehmen. Er scheint ganz gut mit diesen beiden Söldnern auszukommen. Miss Wilcox und Mister Reaves.“
Eine Sekunde überlegte sich Helena eine aufrichtige Reaktion. Sie entschied sich nicht dagegen. Sie entschied sich jedoch ebenfalls nicht dafür, ernsthaft zu sein.
„Bah, bläh“, sagte sie. „Die sind auch überall plötzlich. Und dann verbietet mir jeder, mal auf gut Glück ein Messer zu werfen.“
Als Levi ihr erwiderte, dass er auch nie ein Messer werfen durfte, hatte sie ihn so gern wie schon lange nicht mehr.


Sie ging heim. Aber je weiter sie der warmen Decke aus Tavernengeräuschen und Licht entschlüpfte, je kälter die Luft wurde, die Stimmen irgendwann nur noch dünne Fäden, die im Nachleben ausklangen, desto schwerer und deutlicher drang die Erinnerung zwischen ihre Ohren.
Wahrscheinlich dachten alle, sie wäre von Nicolae besessen. Cird dachte es. Aber er war nicht dabei gewesen, damals, als sie zu Adrian gewollt hatte und der Mann, der am Fenster gestanden hatte, als er sich umgedreht hatte, nicht ihr Adya gewesen war, den sie kannte, sondern das Gesicht der Boshaftigkeit. Er hatte nicht gesehen, wie knochenlos sich Adrian verhalten hatte, sobald Nicolae ins Spiel gekommen war. Der alte Iorga hingegen war ein einziges Gerippe ohne Menschlichkeit. Nur ein Körper.
Eine Frau glaubt immer bereits zu wissen, was der Mann als nächstes zu sagen gedenkt.“, hatte Nicolae ihr gegenüber behauptet. Er war sich seiner Sache ziemlich sicher gewesen.
„Dass du dich bedroht fühlst, Helena, hängt viel weniger mit dem zusammen, was ich sage oder nicht sage, als mit deiner Persönlichkeit.“
„Nein, Lieber, und hier ist dein Denkfehler. Es hängt mit deiner Persönlichkeit zusammen“, war ihre Antwort gewesen.
Helena, ich weiß deine Bemühungen in der Stadt der Götter sehr zu schätzen. Ich bin sicher, du arbeitest hart. Aber in diesem Tanz, den wir Geschäft nennen, führen die Männer.“


Sandburgen. Weshalb baute sie überhaupt noch welche. Vielleicht, weil Menschen wie Nicolae, Adrian oder Victor nicht das waren, was sie anstrebte. Eine Steinburg zu bauen, um sich herum, war nichts, an dem sie sich hätte erfreuen können. Und letztendlich zielte doch das gesamte Leben auf Erfreulichkeit?


Helena war erleichtert gewesen, als Cird im Pfandhaus seinen Blick von ihr genommen und wieder Abstand aufgebaut hatte. Er war ihr fremd wie zu Beginn ihrer Bekanntschaft, ein räudiger Hund, dem sie nichts glaubte. Nur hatte er jetzt eine Größe und Haltung, die ihr Angst machten. Helena hatte obskurantistische Züge, sie stiftete Verwirrung und bewegte sich im Unverständlichen, im Dunkeln so frei wie ein Vogel. Auch Cird war von einer Dunkelheit, einer Undeutlichkeit umgeben. Eigentlich hatte er immer nur frei sein wollen.
Sie hatte ihm damals gesagt, es gäbe sie nicht ohne ihre Familie. Die Familie hatte er nicht gewollt.
Da stand er jetzt. Fast ein Libanez. Einer von Nicolaes Männern.
„Ich hab dich da rein gebracht“, sagte sie. „Ich hol dich wieder raus. Ich befrei dich. Das schulde ich dir.“
Vielleicht war seine Freiheit ihr mittlerweile wichtiger als ihm. Vielleicht war er gar nicht unfrei, wenn er Teil der Löwensteiner Geschäfte war. Vielleicht war sie es.

Kommentare 11

  • Heh, bin gerade am Nachlesen von hunderten Geschichten, wobei es eigentlich nur 40 sind. Frustrierend, wenn die Zahl da gefühlt nicht kleiner wird... Umso schöner, sowas zu lesen.


    You know de way, my queen! :)

    • Hey Schnecko, schön von dir zu lesen. Aber warum liest du denn alles nach, wer zwingt dich denn?
      Vielen Dank, ich freue mich sehr über das liebe Kompliment :)

    • Niemand zwingt mich, aber es ist interessant, du =)

  • Und auch hier lese ich atemlos mit und raufe mir stumm die Haare.

  • Man mag fast meinen du revanchiert dich bei Ghabriel für die iorgastischen Gedankengänge!


    Nicole ist für mich durch Helenas Perspektive inzwischen zu so einem obskuren Formwandler geworden, der nachts Häuserwände hochhüpft und rückwärts viel zu schnell Treppen hochkrabbelt.

    • Ist er nicht. Wäre er das, würde er sich nicht so sehr von der Öffentlichkeit fernhalten müssen, denn dann müsste er sie nicht fürchten.


      Und ja, als ich es schrieb, kam es mir auch so vor. Tatsächlich gab es aber einen ausschlaggebenden Moment im RP, der mir bei Ghabriel sehr gefallen hat und ab dem ich mir dachte, ich möchte darauf nochmal eingehen. Dass ich über andere Charaktere schreibe, ist ja keine so große Neuheit :)

    • Was ich noch sagen wollte: Es ist aber eine geile, kurze Beschreibung für ein echt creepiges Gruselmonster, die du da abgegeben hast, vor allem das mit den viel zu schnell rückwärts Treppen hochkrabbeln =D

    • "Das letzte was Hugh sah war...es. Und er wusste als einziger, Nicoale war kein Mensch..."


      Haha, danke.^^ Und ja, über andere, echte Charaktere schreiben hält alles lebendiger.

  • Hm, vielleischt muss man besseren Einblick in alles haben um diese (zwei) Geschichte(n) schätzen zu können, aber ich finde sie gehören zu deinen Besseren.
    Den Besseren, bei eh schon hohem Standard.