Der Pfau und der Schwan

Das verengte Himmelblau lastete auf dem Schwan. Eine eigentümliche Mischung aus ästhetischer Geringschätzung und leidenschaftsloser Unduldsamkeit lag in dem Blick. Das Tier mochte davon unbeeindruckt bleiben, doch gewannen die Augen des Betrachters keine Nuance an Wärme, während sie sich langsam vom gerundeten Hals bis zum hölzernen Federkleid voran tasteten. Trajan ergriff das Kleinkunstwerk und wog es sachte in der Rechten. Ihm war unklar, wie jene Nippsache hierher gelangt war und was sie nun auf seinem Schreibpult zu suchen hatte. In jedem Fall stellte der Schwan nur eine weitere Ablenkung dar, welche der Iorga in dem Kunstzimmer des Anwesens eigentlich zu vermeiden suchte.

Trajan entledigte sich dieser Ablenkung und beförderte das hölzerne Tier wieder auf dessen neu angestammten Fleck. In dem Wissen, dass es dort nicht lange überdauern würde, widmete er sich wieder seinem gelblichen Briefpapier, stützte das Kinn auf seine Linke und ließ den Kohlestift in den Fingern der anderen Hand kreisen. In Trajans Interesse lag kein künstlerisches Schaffen. Jedoch erforderte es durchaus besondere Formen von Kunstfertigkeit und Feingefühl, seinem Vater eine hinreichend eloquente Ausladung für die kommenden Wochen zu verfassen. Doch mehr als ein liebenswertes Grußwort war trotz intensiver Überlegung nicht zu Stande gebracht worden. Denn spätestens durch das gesicherte Wissen um die winzigen Erfolgsaussichten eines solchen Briefen, avancierte sich der Schreibprozess zu einem Meilenstein der Schwerstarbeit.


Der Schwan hatte Trajans Gedanken erneut durcheinander gebracht. Kurzzeitig erschien es ihm verlockender, einfach eine Fabel oder eine phantastische Abhandlung über Tiere zu formulieren. Doch diese Idee war nicht einmal eine tiefere Reflexion wert. Zu viele triviale Seelen in dieser Stadt lebten ausschließlich zur unmittelbaren Befriedigung ihrer tierischen Instinkte. Die kaum vermeidbare Hinzunahme realistischer oder gar autobiografischer Elemente, empfand Trajan als wenig reizvoll. Des weiteren gab es in seinem Ermessen bereits eine Unzahl an Erzählungen mit animalischen Assoziationen. Warum also sollte man das Wohlbekannte kopieren, wenn die Kreativität doch für individuelle Denkmäler ausreichte?


Gegenwärtig ging diese jedoch nicht über die Sichtweite hinaus. Trajan wand sich auf seinem Stuhl und betrachtete ein Gemälde, von dem er meinte vernommen zu haben, es stamme aus Leons Feder. Da er diesen mit am Wenigsten kannte, erschien ihm die Möglichkeit gar nur zu plausibel. Zahlreiche Geistesblitze, von welchen sich zwei als folgenreiche Schläge herausgestellt hatten, schien sein Cousin hier mental aufgefangen zu verewigt zu haben. Neben einer ruhigen Hand war dafür zweifelsohne auch ein feines Auge von Nöten. Erneut erhoben sich Gedanken aus der Taufe, die ich ihrer Tollkühnheit wegen, als kontraproduktiv erwiesen. Anlass war die Betonung des ~einen~ Auges gewesen. Banels lächerliche Augentheorie drängte sich auf. In den letzten Tagen, hatte er sie der halben Familie unaufgefordert auf die Nase gebunden und sie als wissenschaftliche Gesetzmäßigkeit verkaufte. Es war in Zweifel zu ziehen, dass der Kleine den Terminus “Gesetzmäßigkeit“ überhaupt richtig auszusprechen vermochte. Umso überraschender, wenn nicht schockierender, erschien Trajan an der ganzen Sache, dass Banels minimalistischer Verstand zur Bildung von Kompositionen wie „Augentheorie“, überhaupt fähig war. Kopfschüttelnd wanderte das Himmelblau wieder ab zu dem Schwan, den Trajan als Ursache seiner mangelnden Konzentration anklagte.


Manch ein Schöngeist mochte der Meinung sein, dass der reine Fluss von Gedanken - idealerweise bestehend aus einem Gemenge von Momentaufnahmen - eine wunderbare Quelle für kreatives Schaffen war. Mentale Fragmente, die im Rahmen einer offenen Finalität zur Papier gebracht wurden, ergaben durch ihre sukzessive Aneinanderreihung ein ganz und gar einmaliges Kunstwerk. Für Trajan bedeutete diese Einschätzung nicht anderes denn ein heilloses Chaos. Jeder Gedanke musste eine Produktivität entfalten, um einer größeren Sache nutzbar zu sein, die zwar diffus sein durfte, aber dennoch im Einklang mit einer langfristigen Zielvorstellung zu stehen hatte. Je freier und formloser die Gedanken waren, desto handlungsunfähiger fühlte sich der Iorga.


Doch möglicherweise war seine gegenwärtige Untätigkeit auch einem wesentlich deutlicheren Umstand zuzuschreiben. Denn einfach jeder Gedanke, der seinen alten Herren und den Brief nicht zum Gegenstand hatte, mutete gerade verlockender an. Selbst jener hölzerne Schwan - dessen Anblick wohl nur auf solche Verblendeten angenehm wirkte, die niemals dessen oberflächliche Kunstfertigkeit durchbrachen – vermochte mehr zu fesseln.


Wie überdrüssig er seinem Vater wirklich war, verdeutlichten schließlich weitere Momentaufnahmen in Form von belanglosen Erinnerungen an Leuten, deren Gesellschaft Trajan seit seinem Zuzug hatte machen und genießen dürfen. Wenig schmeichelhafte Worte umrahmten den Gedanken an die Gönnerin seines Studiums. In seinem Weltbild fungierte sie ausschließlich als die Requisite eines Goldesels, der sich den Sinnesgrundlagen seiner Existenz irgendwann selbst berauben würde. Ähnlich verhielt es sich mit der Tochter der Universitätsdirektorin. Trajan hatte ihre Gesellschaft bis zu dem Tag gesucht, an dem offenbar wurde, dass eine mittelbarer Einflussnahme auf die Direktorin dadurch nicht möglich war. Etliche weitere Namen kamen ihm unvermittelt in den Sinn und verschwanden ebenso bald wieder. Ironischerweise auch jene von Narcis und Banel, die es seit ihrer Inhaftierung versäumt hatten zu bemerken, dass der Gebrauchswert mancher Objekte deren Verschleiß nicht überlebte. Doch vielleicht vermochten sie ja auch zu überraschen. Dinge als gegeben zu akzeptieren war der erste Schritt der Leichtsinnigen.


Andere Menschen bei ihrer Eitelkeit und ihren unerfüllten Sehnsüchten zu packen, erschien bisher jedenfalls als durchaus probates Mittel zum einseitigen Vertrauensgewinn. Echt wirkendes Interesse für die angebliche Schönheit ihrer hohlen Seelen, für ihre Person bar von Titeln, Errungenschaften und immateriellen Zierrat, waren dabei ein notwendigen Übel. Doch Trajan erachtete sich selbst als verständig genug, die Lernpotentiale von derartigen Übeln keinesfalls gering zu schätzen oder gar zu übersehen.


Noch weniger verhielt es sich mit Vorfällen, die bis dato in seinen Kalkulationen keinen Platz beansprucht hatten.


Trajan legte den Kohlestift beiseite und richtete sich in seiner aufgestützten Position auf, bevor er an sich herabblickte. Die Finger der freien Hand folgten den Iriden und fuhren über die Brokatweste, bis sie die untere Hüftregion erreicht haben. Blick, Bewegung und Gedankenfluss gefroren gleichzeitig und hinterließen eine Leere, die Trajan nicht schockierte. Er vermochte es auch nicht, sich einen Grund auszumalen, warum sie hätte schockieren sollen. Denn die damit verbundene Erinnerung hatte einen epiphanen Charakter. Eine Verdeutlichung der Willkür des Lebens, welches man binnen ein Herzschlages verlassen konnte, um in die Nebel einzutreten. Unberechenbar wie hunderte von Münzwürfen und nichts denn die triste Wahrheit.


Die Finger wichen von der gehaltenen Stelle und Leben kehrte in das Himmelblau zurück. Der beeinträchtigende Verband war schon vor einigen Tagen verschwunden. Ebenso war die erlittene Schusswunde genesen. Doch die Erinnerung an diesen Vorfall, der um Haaresbreite Schlimmeres hätte bedeuten können, würde nicht wieder verblassen. Denn während andere nach Blut und Vergeltung lechzten nahm sich Trajan vor, seine Lehren aus dieser wertvollen Erfahrung zu ziehen. Und eines hatte er bereits gelernt, als seine Augen den Moment bezeugt hatten, in welchem sich das Reinweiß von Hemd und Handschuhen tiefrot verfärbt hatte.


Er war nun im Geschäft angekommen. Einem, welches keineswegs nur durch phantastische und schmuckvolle Facetten bestach, sondern eben auch durch die Grausamkeit des Zufalls. Sollte es einen vernünftigen Menschen nicht abschrecken? Rechtfertigten Ehrgeiz und jedwede Ambitionen die Schaffung eines derartigen Damoklesschwertes? Trajan sowohl die für sich beschlossene Antwort, als auch die darauf basierenden Gründe.


Schließlich erhob sich der Iorga von seinem Stuhl und entsorgte das kaum beschriftete Pergament wie ein unvollendetes oder mangelhaftes Kunstwerk. Erneut traf der Blick des Himmelblau den Holzschwan und nur kurzzeitig kehrte der Ausdruck in der Leere zurück. Doch die Tür fiel von außen ins Schloss, ohne dass die Nippsache ihres momentanen Platzes beraubt worden war.


Denn es war noch nicht an der Zeit, sich des Schwanes zu entledigen. Vielleicht würde es das nie sein oder möglicherweise gelang ihm dies Kunststück auch aus eigener Kraft. Der Zufall lehrte, dass bedauerlicherweise nicht alles bis ins letzte Detail sicher vorherzusagen war.

Kommentare 13

  • Dankeschön für sämtliches Feedback!

  • Ich glaube ja, ganz tief in seinem Inneren liebt er das Schwani. Er mag es bloß nicht zugeben.
    Bestimmt. *nickt unterstreichend*

    • Der Schwan: "Jeder verliebt sich in mich."
      Der Pfau: "Du hast meine unterschwellige Meinung zu "jedem" richtig erraten."
      Kyle Käfer: "Eure Tiernamen sind ein überbeanspruchtes Konzept. Ich bin der Flammenfalke!"
      Die vermenschlichte Biozönose: "Wer auch immer Du bist und wo auch immer Du plötzlich herkommst... Du bist eher der Flatulenzengerling."
      Banel: HAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHA (...) ...Versteh' ich nich'.

  • Vom Geistesblitz zum Schlag ist der Weg kurz, heha, clever!
    Ich finde die Absätze genau richtig portioniert.
    Und Trajan sollte mal meditieren.


    Mich stört alleine das Wort 'Damoklesschwert'. Mir fiele aber auch kein tyrianisches Equivalent dafür ein. :o

  • Shane wäre amüsiert gewesen, ihn zu beobachten. Ich selbst empfinde eine jähe Sympathie für Trajan.

  • Du hast eine sehr anspruchsvolle Art, zu formulieren. Auch das Bild der Szenerie, in der du dich bewegst, springt einen nicht an wie ein freudiger Hund. Man muss sie sich durch das Lesen deines Textes erarbeiten, aber genau das hat mir sehr gut gefallen, weil ich mich dadurch umso tiefer hineingezogen fühlte.
    Man kennt dieses Gefühl selbst so gut: irgendetwas anpacken zu wollen und sich eigenhändig andauernd davon abzulenken. Das hast du sehr greifbar eingefangen. Am meisten mochte ich seine Gedanken zu den Konsequenzen, die dieser Schuss für ihn persönlich hatte. Sehr stimmig.

    • Danke für die gleichsam erfreuliche wie analytische Rückmeldung!


      Ich sehe mich meist der Unzulänglichkeit ausgesetzt, die ideative Entropie in meinem Kopf selten bis nie für mich zufriedenstellen zu Papier bringen zu können. Somit freut es mich außerordentlich zu wissen, dass ich eben dieses Gefühl des mangelnden Tatendrangs trotz/wegen des fachterminologischen Salates nachvollziebar darzustellen vermochte.

    • Dein Text war weniger salatig als dein Dank für die Rückmeldung, also mach dir darum keine Sorgen. :)

  • ...wie war das mit Momenten, in denen einen der liebe Trajan ganz unerklärlicherweise instantan unfassbar unangenehm wird... damdidam.

    • Keine Ahnung wie das mit diesen Momenten war. Mein Eindruck ist eigentlich, dass der Ioan beide Gesichter des TraJanus (missglücktes Wortspiel) als äquivalent unangenehm empfinden würde. Aber das lässt sich vielleicht einmal ermitteln!


      Spätestens durch eine kooperative Investigation von Tutu und Harry (ebenfalls missglücktes Wortspiel).

    • Ich finde das Wortspiel höchst gelungen und habe jetzt schon Angst vor dieser kommenden Ermittlung. Ähem.

  • Herrje. Schön. Das mochte ich und schau, ich habs gelesen!

    • Das freut mich sehr.


      Offen bleibt lediglich die Frage nach deiner Motivationsgrundlage - hat dich mein Plagiat deiner animalischen Onomastik geködert oder hegtest Du latente Hoffnungen auf einen ver-kla-heinerten Cameo von Battlebanel? :)