Auf der Reise - Angekommen

"Ganz so einfach ist das leider nicht."
Lis hatte Helena's Worte noch deutlich im Ohr, als sie jetzt in der geräumigen Kutsche saß, die gemächlich ihren Weg in die Siedlung Ascalon holperte. Ihr gegenüber saß Razvan, dessen Frau Nevia sich an seine Seite gelehnt hatte. Beide sahen sie still aus dem gleichen Fenster in eine Ferne, die sich nur in ihren Gedanken abspielen konnte und sahen dabei so einträchtig aus, dass es schien, als betrachteten sie auch ohne Worte das gleiche Bild.
"Du stellt sie damit auch zur Schau. Du zeigst eine Schwäche."
Helena saß an Lis' rechter Seite. So wie alle anderen in der Kutsche war auch sie, nach den ersten anfänglichen Gesprächen, mitlerweile in Schweigen verfallen und ließ die Landschaft an sich vorbei ziehen. Ihr schönes Gesicht war selten unbewegt, auch jetzt nicht, als fiele es ihr sogar als Passagier nicht leicht, sich einfach einmal zurück zu lehnen und andere machen zu lassen.
"Ich würde Nicolae im Auge behalten."
Lis schloss die Augen und genoss ganz unbefangen die harmonische Stimmung, die das Innere der Kutsche erfasst hatte, die schlafende Maya im Arm, deren Zwillingsbruder Kyril am Boden der Kutsche saß, und dem alten Hund, der sich dort eingerollt hatte, lebhaft und gestenreich eine Geschichte erzählte, die außer ihm noch kein anderer verstand.

Helena's warnende Worte hatten Lynn gegolten. Dem jungen, kupferblonden Mädchen, das nun vorne neben Taylor auf dem Kutschbock saß, einen viel zu großen Hut auf dem Kopf, der ihr ständig bis auf die Nasenspitze rutschte, und ein schmuckloses Gewehr gewichtig im Arm, als wäre sie bereit jeden vermeintlichen Angreifer allein mit ihrem Anblick in die Flucht zu schlagen.
Momente wie diese waren selten. Nicht ungewöhnlich, aber selten. Und Lis sammelte sie still und ganz für sich allein wie kostbare Perlen, die man an einem geheimen Ort verbarg, um sie immer dann hervorzuholen und sich an ihnen zu erfreuen, wenn man sich sicher war, nicht dabei ertappt zu werden.
Und Momente wie diese waren es auch, wegen derer sie sich entschlossen hatte, sich trotz Helena's Warnung an etwas anderes zu halten, das diese eben auch gesagt hatte.
"Du bist ein Teil der Familie. Du nimmst mit, wen immer du möchtest."



Als sie später am Abend im Kreise ihrer Lieben saß und zusah, wie unter ihnen gescherzt, gelacht, getrunken und gerangelt wurde, als sie sich die Zeit nahm die Männer und Frauen zu betrachten, von denen sie sich sicher war, dass sie unverrückbar hinter Helena stehen würden, wenn es notwendig war, da kam ihr plötzlich in den Sinn, was der Grund dafür sein musste, warum Nicolae diesem Familienzweig soviel unliebsame Aufmerksamkeit schenkte.
Und sie ließ es sich nicht nehmen, sich zurück zu lehnen und quer durch den Raum auf den einen Mann zu blicken, dessen Verfallsdatum ihrer Meinung nach längst abgelaufen war.
"Sieh nur her, alter Mann. Wir sind Götterfels!"

Kommentare 2

  • Gut dass ich jetzt weiss dass es zwei Lynns gibt, das hätte mich sonst unglaublich verwirrt!

  • Das finde ich schön. <3


    Nicolae antwortet in Gedanken zwar wahrscheinlich: nichts, denn er denkt nicht mal an Götterfels, aber das tut ja der Geschichte keinen Abbruch.
    Ava würde so einen Satz wahrscheinlich auch denken. ^^