Auge um Auge

Adrian war zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit in Götterfels gewesen. Banel hatte ganz Recht, wenn er sagte, dass „der Scheiß ein Ende haben“ musste. Adrian hatte Malicia Libanez eingefordert, die ihn eigenen Worten nach verraten hatte. Er hatte es ein Geschäft genannt, Auge um Auge, und Lynn gegenüber verlangt, dass sie das Mädchen auslieferte. Er wusste, dass Lynn dazu überhaupt nicht befugt war.


Die Beratung, wie mit der Situation zu verfahren sei, ging los, als Helena wieder da war. Es war anders als früher. Lynn, Trajan und Banel waren da, und ungünstigerweise hörte auch der Neue einiges, was für seine Ohren nicht bestimmt war. Hinterher fragte Helena sich, warum sie es zugelassen hatte. Weshalb sie so gleichgültig darüber dachte, was der Neue mitbekam. Hatte sie das Leben aus so vollen Krügen gesoffen, dass es ihr nicht mehr schmeckte? Jeden Tag hatte sie Vergeudung auf der Zunge, wie ein bitteres Kraut, dessen Geschmack sich mit nichts auf der Welt runterspülen ließ. Sie bestand fast nur noch aus Gleichgültigkeit und dem Gefühl, dass es schon irgendwie werden würde.
„Der Boss zu sein ist kein Vergnügen“, hatte ihr Bruder Leon ihr gesagt. „Man lebt nicht mehr für sich selbst.“ Sie hatte in sein schräges Gesicht gesehen. Sein Auge und sein Mundwinkel, die nach unten hingen, seit ihn der Schlag getroffen hatte und allem, was er sagte, traurige Bedeutung verlieh. Er war der beste Beweis für seine Worte.


Trotzdem stellte sich Banel die Sache zu leicht vor, wenn er dachte, man könnte einfach zu Adrian nach Löwenstein gehen und mit ihm reden und damit wäre alles wieder im Lot. Adrian war Diplomat, aber er war auch Nicolae Iorgas Sohn, er war die Saat allen Unglücks und er würde nicht von seinem Ziel abrücken, weil man an seine Werte appellierte. Trotzdem versuchte sie es. Vielleicht hatte er einen guten Tag.


Adrian erwartete sie nicht, als sie im Kontor am Löwensteiner Hafen eintraf. Fremde Männer hielten sie auf, die sie in sein Büro brachten, sobald sie ihnen sagte, wer sie war. Die Niederlassung am Meer war schön. Große, hallende Flure, Geschäftigkeit, Menschen, die wussten, wo ihr Platz war und wie Zahnräder ihre Bahnen drehten. Und Adrian in seiner perfekten Aufmachung, in der er aussah wie ein Gebieter und im selben Moment, in dem er die Arme ausstreckte, dennoch jedermanns bester Freund war.
„Das ging schnell!“, rief er erfreut. „Helena! Du kommst selbst.“
Er hatte hinter einem mächtigen Pult gesessen und stand auf, als sie eintrat. Der Mann, der sie hergeführt hatte und unangenehm in ihrem Rücken stand, war dem Aussehen nach mit der Familie Libanez verwandt, aber Helena kannte seinen Namen nicht.
„Lass uns allein“, befahl Adrian und der Fremde ging. „Ich nehme an, Lynn hat dich über alles unterrichtet.“
Er schenkte Helena aus einer Kristallglaskaraffe ein. Sie erkannte am tulpenförmigen Glas, dass es Whiskey sein musste. Sie wollte antworten, doch er fiel dazwischen.
„Weißt du, es ist lustig“, murmelte er, indem er sein Glas schwenkte und sich auf die Kante seines Schreibtisches setzte. „Als ich in Götterfels im Anwesen auf dich gewartet habe, ging die Tür auf. Und plötzlich kam Gesocks rein. Allein. Lynn kam erst später.“
„Dieses Gesocks sind meine Leute.“
Adrian nickte. Sein Mund war zu einer sanftmütigen Spottfratze geöffnet.
„Ja, das wurde mir gesagt.“
Er schwieg, trank, und warf Helena einen Blick zu, der mehr ausdrückte als jeder Hohn konnte.
„Wie wäre es. Adrian. Kommen wir zum Punkt?“ Helena setzte sich auf die andere Kante von Adrians Schreibtisch. Sie stellte ihr Glas neben sich ab. „Ich sehe das Ganze hier nicht als ein Spiel.“
„Das tue ich auch nicht. Ich dachte, Lynn hätte dir mein Anliegen erklärt.“
„Malicia hat dich hintergangen. Sie hat deinem Vater zugearbeitet. Und jetzt willst du, dass ich sie dir gebe, damit...damit was, Adrian? Glaubst du, sie hatte eine freie Wahl?“
„Man hat immer eine Wahl. Jede davon hat Konsequenzen.“
„Revan hat mich gebeten, Malicia aufzunehmen und zu schützen. Als Ausgleich für die Sache mit Mila. Ich begleiche meine Schuld. Ich kann sie dir nicht geben. Verhandle mit mir, Adrian.“
Erkenntnis schimmerte dunkel in Adrians braunen Augen. Er schien zufrieden damit, die Zusammenhänge zu erkennen. Eine Sekunde bestand Hoffnung darauf, dass er Einsicht zeigte.
„Es freut mich zu hören, dass du deine Schulden begleichst. Auch bei mir, nehme ich an“, sagte er dann.
„Ja. Aber nicht so. Du bekommst Malicia nicht. Aber du bekommst einen Ausgleich.“
„So? Wen bekomme ich denn?“ Er lächelte auf. Es war widerlich. Er sah plötzlich aus wie sein Vater, obwohl man sich diesen nie mit einem Lächeln im Gesicht vorstellte, wenn man an ihn dachte. „Darf ich mir jemanden aussuchen.“
„Götter, Adrian. Bitte. Wir sind Freunde. Warum bringst du mich in diese Situation?“
„Wir sind Geschäftspartner, Helena.“
„Wir sind beides! Du kommst in mein Haus und sprichst Drohungen aus? Das ist unter deiner Würde, Adya. Und dann ausgerechnet Cionar? Was soll das?“
„Nun, du bist hier. In weniger als fünf Stunden kommst du nach Löwenstein.“ Da Helena ihr Glas nicht wollte, nahm er es und trank daraus. „Alles hat ganz ausgezeichnet funktioniert, oder?“
„Ich bin hier“, wiederholte sie. Sie atmete langsam und gemahnte sich zur Ruhe. Adrian war immer noch umgänglich. Er ließ ihr Spielraum, zu verhandeln, selbst wenn nicht gewiss war, ob er nicht all ihre Vorschläge brutal abschmetterte. „Also, handeln wir. Was möchtest du? Geld? Einen Gefallen? Ein Liebesgedicht?“
„Ein Liebesgedicht! Das wäre doch schön.“ Adrian verließ das Pult. Er schenkte beide Gläser neu auf. „Oder wie wäre es mit deinem Versprechen, dass du nie wieder mit Revan Libanez sprichst. Und, da du ihn zum Mittler gemacht zu haben scheinst, nicht mehr mit Cird. Wäre das ein angemessener Preis für Malicias Leben?“
Helena blickte in Adrians Gesicht, das nur auf exzentrische Weise und gewiss nicht auf die gängige schön war. Er bog die Brauen nach oben, lächelte. In diesem kultivierten Gesicht saßen rohe Augen. Wo war sein Mitgefühl? Wo war sein Charakter? Was war ihm widerfahren, oder war er schon immer so gewesen, nur nicht ihr gegenüber?
„Ich kann dir so ein Versprechen nicht geben“, sagte sie leise. Ihr Blick fiel zu Boden. Sie brachte es nicht über sich, zu sagen, was nötig war. Sie war nicht geringer als er. Sie würde nicht bitten.
„In diesem Fall – ich erwarte Malicia übermorgen.“
„Bitte Adrian.“ Aber manchmal musste sie die Größe besitzen, sich klein zu machen. Es war nichts Erbärmliches daran, ihre Loyalität zu den Ihren über ihren Stolz zu stellen. „Komm mir entgegen. Hilf mir hier. Du siehst meine Zwickmühle. Lass uns zusammenarbeiten und gib mir etwas, womit ich dich auszahlen kann.“
„Wie wäre es mit deinem Anwesen?“
„Adrian...“
„Oder dem Pfandhaus. Aber ich sehe schon. Du willst günstig davonkommen. Gut: Avram.“
„Avram?“
„Nicht? Siehst du, Helena, das Problem ist: Du willst mir nichts geben. Nichts, was du nicht sowieso erübrigen kannst. So geht kein Handel. Du willst etwas geschenkt.“ Adrian wandte sich Helena zu, zwei Gläser in der Hand. Eines leerte er und stellte es auf einen Seitenschrank. „Es wäre das einfachste, du gäbest mir einfach Malicia.“
„Die Libanez sind deine Freunde? Wie kannst du ihnen das antun?“
„Geschäft ist Geschäft. Hier in Löwenstein weiß man das.“
Sie verstand klar und deutlich, was er ihr damit vorwarf. Um nicht etwas zu sagen, was sie später bereute, schwieg sie eine ganze Weile.
„Bist du generell bereit, zu handeln?“, fragte sie schließlich und sprach mit Vernunft, gegen die er mit Herablassung nicht ankam. „Oder verschwende ich nur meine Zeit.“
„Ich bin bereit. Aber wie du sagtest: Wir spielen hier nicht. Biete mir etwas Richtiges an. Dann können wir sprechen.“
„Nimm an ihrer statt Adeodato. Es täte ihr weh. Das wäre tatsächliche Rache.“
Adrian starrte Helena lange an. Er musste entsetzt sein und deshalb beeindruckt.
„Gar nicht so ungeschickt“, sagte er leise und hob sein Glas bis zum Mund, kippte es und senkte es wieder, bevor er getrunken hatte. „Und vollkommen berechnend. Es stimmt natürlich, was du sagst, aber deshalb schlägst du es nicht vor. Du schlägst es vor, weil du selbst Dato nicht vertraust. Und weil du willst, dass ich ihn für dich aus dem Weg räume.“
„Wie kommst du darauf.“
„Ich denke, es ist zutreffend, zu sagen, Lynn hat Andeutungen gemacht.“
Helena hob ihr Kinn. Sie antwortete nicht.
Adrian aber lächelte süßlich belustigt, intrigiert und endlich dazu bereit, Vorschläge anzunehmen.
„Du lässt doch sowieso jeden in dein Haus“, begann er. „Wie wäre es damit:“
…..

Kommentare 7

  • ...womit? WIE WÄRE ES WOMIT?!

  • Ey, das sind Menschen und keine Pokemonkarten!


    Bei dem biblischen Titel dachte ich ja erst an einen Kampf bis aufs Blut. Aber das mochte ich auch. Dachte halt da werden eigene Augen aufs Spiel gesetzt und nicht die von armen Köchen. xD

    • Malicias Auge ist weniger wert, ja? JA? :)


      Für die Augen in der Hand bist du zuständig, Liebelein.


      Danke, dass du so unermüdlich Geschichten liest.

  • Ohhh... Liebe Güte. Mir fehlen ein bisschen die Worte. ;) Ich hatte nicht geglaubt, dass die Sache noch bzw. gerade so 'heiß' ist! Sie muss sich mal wieder häufiger zeigen... zumindest an sicheren Orten. :)