Der Schurke - Auf der Flucht

Kurzgeschichten des Freizeit-Autors Jack Samuel Lynn
Der Schurke - Auf der Flucht


Ich weiß nicht, wie lange ich weg gewesen bin. Es gab keine Sonnenaufgänge oder -Untergänge. In meiner Zelle gab es kein Tageslicht. Nie. Es können Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre gewesen sein, die ich dort verbrachte. Meine Finger waren bleich, im starken Kontrast zu den schwarzen, halbzerfledderten, fingerlosen Lederhandschuhen an meinen Händen. Meine Fingernägel zerkratzt, teilweise eingerissen, die Nägel an den Daumen fehlten komplett. Tief saß der Schmerz, als ich gedankenverloren über die leere Fläche strich, wo einst diese Fingernägel gewesen sind.


Ich war wieder in Kryta angekommen. In Götterfels. Der letzten echten verbleibenden Bastion der Menschen. Ich war wieder in meiner Stadt. Zuhause. Seit gefühlt einer Stunde stand ich schon an der Straßenecke gegenüber dem Haus, welches ich einst mein Eigen nannte. Nun, es gehörte nie wirklich mir, aber die Frau, die darin wohnte. Sie gehörte mir. Als ich meine Augen schloss, sah ich die Strähnen ihres rabenschwarzen Haares an mir vorbeiwehen, spürte sie auf meinen Wangen wie ein lauer, warmer Sommerwind. Doch ist es Winterkälte, die mich aus meinem Tagtraum zurückriss und meine Aufmerksamkeit wieder auf das Haus lenkte. Ich sah keine Bewegungen hinter den Fenstern des Hauses. Nur aus anderen Gebäuden schauten immer wieder Menschen die Straße hinab zu diesem abgeranzten, schwarzhaarigen Penner mit dem ungepflegten Bart und den zerfledderten Klamotten, welcher an der Straßenlaterne lehnte. Auf mich.


Es war hauptsächlich Fräulein Groomler, die Nachbarin. Blond, klein, schlank mit einem hübschen Gesicht, würde manch einer sagen. Aber hier in Götterfels waren seit je her alle Frauen klein, schlank und hatten ein hübsches Gesicht. Und Blond waren alle Iorgas. Wobei Fräulein Groomler kein Iorga war. Nahm ich zumindest an. Sicher konnte man bei diesem Familienpack ja nie sein. Ich sortierte meine Gedanken wieder und entschied mich letztendlich doch dazu nachzusehen. Schwer waren meine Schritte auf dem steinigen Boden. Schwach waren meine Knie, denen ich jeden Moment zutraute einzuknicken und mich unsanft auf das Pflaster schlagen lassen würden. Aber ich schaffte es zur Türe und betrachtete sie. Das Schloss wurde ausgetauscht. Es war nicht mehr die bronzene, matte Türklinke, welche ich angebracht habe. Es war liebloses, nacktes Eisen billigster Sorte. Als ich mich weiter umsah bemerkte ich, dass ebenfalls das Namensschild fehlte. Nur eine blasse Stelle an dem hölzernen Türrahmen war geblieben.


Ich war glücklicher Weise oft auf einen Einbruch vorbereitet. Auch in meinem jetzigen Zustand schaffte ich es mit zittrigen Händen einen Dietrich und ein schmales Messer aus meinem Mantel zu friemeln. Am Messer klebte vertrocknetes Blut. Nicht meines und wohl auch nicht schlimm, wenn etwas davon fortan am Schlüsselloch klebte. Früh genug könnte ich es wieder abwischen. Vorsichtig begann ich mit dem Dietrich den Innenraum des Schließmechanismus abzutasten, bis ich diesen gemeinsam mit dem Messer zum Aufspringen brachte.


Die ungeölte Türe knarzte leise beim Öffnen. Der Innenraum war düster und staubig. Hier hat wochenlang niemand mehr gewohnt. Vielleicht Monate? Sie war fort. Von ihr war keine Spur, die Wohnung war nahezu leer. Möbel standen noch vereinzelt herum, aber es war nicht mehr wohnhaft. Die einst einheimische Wärme, das Willkommensgefühl, sie waren fort. Ich konnte spüren, wie mein Herz schwer wie Blei wurde. Sie hatte mich in meiner schlimmsten Zeit einfach im Stich gelassen.


Verwirrung und Zorn kämpften in meinen Gedanken und verdrängten die Vernunft und die Gelassenheit. Wutentbrannt vergaß ich meine derzeit körperliche Schwäche und packte einen der verstaubten Stühle, wirbelte ihn um mich und warf ihn gegen die nächste Wand. Zu meinem Leid zerbrach der Stuhl nicht in gewünschte tausende Teile, sondern blieb heil. ‚Keltim‘ dachte ich nur. Verdammte Luxusmöbel. Verdammtes Gör mit ihren verdammten Ansprüchen. Der andere, verbleibende Stuhl bekam einen Tritt, welcher mir vermutlich mehr wehgetan hat, als dem Stuhl, welcher stoisch das Gleichgewicht verlor und nach hinten überkippte. Ich humpelte kurz und hielt die kaputte Stiefelkappe meines Fußes fest. Der Schmerz brachte mich immerhin dazu wieder etwas ruhiger zu werden und mein Gemüt abzukühlen. Es musste Hinweise geben. Ihr Schreibtisch war oben. Mein Blick flog zur Treppe und meine Beine hatten kurzfristig vergessen, dass sie schmerzten, während ich die Stufen mit schnellen Schritten erklomm.


Auch hier war es düster. Ich zog einen der Vorhänge auf, um das müde Nachmittagslicht in das Haus zu lassen. Staubig. Verlassen. Die Couch und der Teppich, auf denen ich so viel Spaß mit ihr hatte, fehlten. Leider genauso wie der Schreibtisch. Ich konnte spüren, wie die Wut in mir brodelte, doch ich versuchte mich zurück zu halten. Wenigsten gab es hier noch Müll. Ich begann die Fetzen von Papieren aufzulesen und zu entziffern. Vieles handelte von der Rurikhalle, dem zweiwöchentlichen Zusammenkommen der höheren Schichten dieser Stadt und von irgendwelchen Treffen mit irgendwelchen adeligen Vollidioten. Pack. Ich kam nicht umhin auszuspucken, als ich den Namen ‚Ashcroft‘ las. Adel, pah. Aber wirklich anders wurde mir bei einem mir durchaus bekannteren Namen. Ich engte die Augen, während ich die offensichtliche Unterschrift entzifferte. Wie ich diesen Namen hasste. Jemand mit einem solchen Familiennamen, der so tut, als würde er der Stadt etwas Gutes tun: „Levi Iorga.“


Zurückhaltung war schwer. Ich zerknüllte den Zettel, warf Schränke und Stühle um, riss ein Bild von der Wand und warf es aus dem Fenster. Jedoch war es nicht das Geräusch des klirrenden Glases, welches mich inne halten ließ, sondern die Geräusche von draußen. Zuerst der Schrei einer jungen Frau, Fräulein Groomler, dann aber der tiefere Bass einer Männerstimme gefolgt von Schritten. Gerüsteten Schritten. Metall, welches bei jedem Marschschritt aufeinander herumhüpfte. Ich konnte diese golden-graue Stahluniform vor Augen sehen, wie sie sich dem Haus näherte. Oh Groomler, was haben Sie getan.


Aus einem Reflex heraus griff ich unter den Mantel zu meinem Revolver, vergaß dabei jedoch ein kleines Detail. Er war nicht an Ort und Stelle. Im Gegenteil. Er wurde mir während meiner Gefangenschaft abgenommen und war mittlerweile sicherlich in einer der engeren Gassen der Marktviertel zu einem viel zu niedrigen Preis verkauft worden.


Ich horchte genau. Jeweils zwei dicht aufeinander gefolgte Schritte gefolgt von einer Pause. Es waren zwei Seraphen. Wahrscheinlich eine typische Patrouille. Ein Rekrut und ein vollausgebildeter Soldat. Eines der beiden Schrittpaare war leichter und weniger stampfend als das andere aber auch leiser. Entweder ein Zwergwüchsiger wie dieser ‚Sibian Wolken-dings‘ aus dem Ministerium oder aber und das wohl wahrscheinlicher: eine Frau. Sie werden bewaffnet sein. Schwert und Schild. Meine Bewaffnung hingegen fiel anders aus: Ich hatte exakt ein Messer. Ich hatte zwar den Heimvorteil, dass ich diese Wohnung kannte, wie die löchrige Tasche im Inneren meines Mantels, jedoch war ich alleine durch meine körperliche Verfassung nicht in der Lage diesen Kampf für mich zu gewinnen. Schlussfolgend hatte ich zwei Möglichkeiten.


Möglichkeit eins: Ich stelle mich der Stadtwache, werde festgenommen, wahrscheinlich erkannt und anschließend geköpft oder zumindest ein paar Mondläufe hinter Gitter gesteckt, wo ich mich dann wieder von Seraphen anpinkeln lassen darf. Ich schüttelte den Kopf bei diesem unerwünschten Vergangenheitsbild. Also Möglichkeit zwei: Flucht.



Ich stellte mich neben das Fenster und presste mich an die Wand. Hatte ich die Türe offen gelassen? Vorsichtig schaute ich an dem zerbrochenen Glas vorbei runter zur Straße und sah die beiden Helmträger sich beratschlagen. Das kurzzeitige Grinsen, darüber, dass es tatsächlich ein Mann und eine Frau waren, verging mir jedoch recht schnell, als ich den Fehler meiner Annahme sah. Die Frau trug einen Bogen und einen Köcher.


Ich schloss kurz die Augen und nickte für mich. Dann wartete ich, bis ich das Rumpeln von unten hörte. Sie haben die Türe eingebrochen. Brachiale Soldaten. Kein Gespür für Geschick. „Wir wissen, dass Sie hier drinnen sind! Kommen Sie mit erhobenen Händen her, dann müssen wir keine Gewalt anwenden!“ Dass ich nicht lachte, verdankte ich nur meiner guten Selbstbeherrschung. Keine Gewalt. Ich kannte die Prozedere der Seraphen. Und die Türe erfreute sich kürzlichst erst über ihr Anwenden von Keine-Gewalt. Natürlich antwortete ich nicht und ging auch nicht hinunter. Im Gegenteil, mein Weg führte mich weiter nach oben.


Ich stieg aus dem Fenster und betrachtete die Hausfassade. Sie war zwar in Schuss gehalten, aber alt und an einigen Stellen schauten die Querbalken der Etagendecken aus der Fassade heraus. Perfekt. Siegessicher kletterte ich außen auf den Fenstersims, griff nach dem rausrückenden Holzbalken und begann mich daran hochzuziehen, nur um festzustellen wie wenig Kraft noch in meinen dürren Armen vorhanden war. Ich schaffte es nicht mich empor zu ziehen und hing wie ein Badetuch an einem Haken von der Hausfassade.


„Er versucht zu fliehen! Draußen am Fenster!“ Oh, wie ich das Fräulein zu hassen anfing. Drinnen ertönten nun lauter und schneller die metallischen Schritte auf dem leidenden Holzboden. Mein Puls stieg und brachte alte Kräfte zurück in die spärlichen Muskeln. Der Gedanke an den näher rückenden Knast der Seraphen und an die Soldatenpisse war ein guter Motivator. Kaum, dass ich mich an dem Balken hochgezogen hatte und nach dem Dach greifen konnte lugte die erste hässliche Fratze aus dem Fenster zu mir. Als ich sagte, dass alle Frauen in Götterfels klein, schlank und hübsch sind, hatte ich gelogen. Der Helm der Seraphenuniform machte aus jeder Frau ein hässliches Biest. Und genau so sah sie mich auch an. Wie eine Bestie, der es nach Beute dürstete. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich konnte erkennen, wie sie vor Eifer sabberte.


„Kommen Sie sofort da runter!“, schrie sie und versuchte nach mir zu greifen. Natürlich war ich zu weit weg für ihre kurzen, gerüsteten Ärmchen. Ich grinste ihr kurz zu. Wohl ein Fehler, denn sie verschwand für Sekunden im Raum, nur um sich anschließend mit gespanntem Bogen und aufgesetztem Pfeil wieder aus dem Fenster zu beugen. Das Erblicken der Pfeilspitze war auch Motivation genug mich möglichst schnell auf das Dach zu ziehen, bevor die Seraphe mich ins Visier nehmen konnte. Auf dem Dach angekommen, legte ich mich flach hin. Das hatte Kraft gekostet und ich musste pausierend durchatmen. Ich hörte wieder wie Befehle gebrüllt wurden, wie Schritte erst über Holz, dann auf Stein hetzten. Jedoch brachte mich erst der Klang eines Zischens durch die Luft dazu aufzuschrecken. Ein Pfeil ist an mir vorbei geschossen. Ich hob den Kopf und sah wie die Seraphe im offenen Fenster des Nachbargebäudes stand und nach dem nächsten Pfeil griff. Ihre Worte ließen mich aufspringen. „Das war ein Warnschuss! Der Nächste Pfeil geht nicht daneben.“ Dies wollte ich ihr zumindest nicht vereinfachen, indem ich ruhig liegen bleibe. Oder mich gar ergebe. Ich sprang auf und kraxelte das Dach empor. Wieder ein Zischen in der Luft und ein Pfeil, welcher an dem krabbelnden Penner auf dem Dach vorbeischoss. Ich hüpfte auf die andere Seite des Spitzdaches und rutschte daran herab, bis ich am Ende den nötigen Halt fand und aus der Sicht der Seraphe war. Keine Zeit für eine Pause. Denn es schepperte unten auf der Straße. Natürlich, es waren zwei Seraphen. Und wenn die Frau klein und schlank ist, dann muss der Kerl natürlich das Gegenteil sein. Er war groß und breit gebaut. Ein stoppeliges Gesicht mit einer fetten, waagerechten Narbe auf der Nase.


„Kommen Sie da runter!“, brüllte er wiederholend und ich antwortete ihm mit einem nackten, aus dem kaputten Handschuh herausschauenden Mittelfinger, ehe ich am Dach entlangging, bis zum Rand des Nachbarhauses. Glücklicherweise sind die Dächer in diesem Viertel der Stadt alle nah aneinander, nicht wie in Rurikstadt. Das ist zwar auch recht zugebaut, aber die Höhenunterschiede machen manch eine Verfolgungsjagd über die Dächer wahrlich schwer. Hier war es zum Glück anders und so stieg auf das nächste Dach und von dort aus weiter. So weit, bis ich am Ende des Blocks angekommen war. Die Schützin war noch nicht zu sehen, aber Herr von und zu Seraph war mir weiterhin auf den Fersen und schaut zu mir empor, wie ich am Rand des Daches stand. Vor mir eine Lücke von gut drei Metern, vielleicht vier. Hinter mir Dächer, die mich sicherlich in die Arme der Schützin führen würden. Dreck. „Kommt sofort runter oder wir sorgen dafür, mit Gewalt!“ Und ich war tatsächlich gewillt der freundlich formulierten Bitte des Seraphen nach zu kommen. Ich atmete erschlagen aus, musste dann aber Grinsen, als ich ein Objekt von Interesse bemerkte.



Ich hob erschlagen meine Arme in die Luft, drehte mich um und ging langsam wieder über das Dach zurück. Die Schützin bog um die Ecke und hob ihren gespannten Bogen an, um zu schießen, wurde aber vom Kollegen abgehalten, der mich genau im Auge behielt. „Er kommt runter“, sprach er beruhigend zur Frau. Haha, wenn er wüsste. Er hätte sie lieber mal schießen lassen sollen. Wobei. Wenn das nun schief geht, müssen sie mich nur von den Pflastersteinen der Straße kratzen. Der Gedanke daran Gesicht voran auf dem Stein zu landen brachte mir ein flaues Gefühl in der Magengegend. Aber es musste sein. Außerdem hatte ich bislang immer Glück. Abgesehen von den paar letzten Monaten. Ich ballte meine Fäuste. Jetzt musste es schnell gehen.


Ich senkte die Arme wieder, drehte mich auf dem Absatz meines Stiefels um und begann Geschwindigkeit aufzubauen. Schneller wurden meine Schritte, während ich mich dem Abgrund, dem Ende des Daches näherte. Konzentriert vernahm ich ein „Idiot“ von unten. Kaum, dass ich an der Kante des Daches angekommen war, sprang ich. Ich flog durch die Luft und die beiden Seraphen konnten sehen wie ich viel zu kurz gesprungen bin. Die Schützin ließ den Bogen gesenkt. Der Mann schüttelte den Kopf. Ich wiederum landete auf dem Deckel einer Straßenlaterne, ging in die Hocke und drückte mich mit einem beidfüßigen Sprung von dieser wieder ab und konnte mich mit beiden Händen auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses festklammern. Geschafft!


„Knall ihn ab! Rekrutin Rotfeuer, Schießen!“ Soviel zum verdienten Erfolg. Während die Rekrutin erschrocken den Bogen wieder anhob, zog ich mich auf das Dach und legte mich dort flach und längst hin. Das Geräusch des Pfeiles, welcher die Luft zerschnitt ließ nicht lange auf sich warten und wie ich hoffte zielte die Rekrutin unter dem Druck ihres Vorgesetzten nicht lange genug, um mich zu treffen. Wieder verfehlte sie ihr Ziel. Während sie nach dem nächsten Pfeil griff, sprang ich auf und schaffte es auf die andere Seite des Daches. Nun hatte ich den benötigten Vorsprung. Ich kletterte zwei Häuser weiter und anschließend vorsichtig an einer Fassade herab. Die Gassen hier waren eng und verwinkelt. Auf meinem eiligen Fluchtweg schnappte ich mir ein herumliegendes Holzbrett der nahen Baustelle und quetschte mich in einen Spalt zwischen zwei Häusern. Ich bin in den letzten Monaten genug abgemagert, dass ich mich in den Spalt hocken und das Holzbrett vor mir an mich lehnen konnte. Ein kleines Loch war im Brett, durch welches ich die Gasse vor mir beobachten konnte. Nun wartete ich.


Es dauerte kaum mehr als eine Minute, bis die Seraphen mich eingeholt hatten. Das Scheppern wurde lauter, dann sah ich zwei Gestalten an dem Loch des Brettes die Gasse entlang laufen. Direkt an mich vorbei. Dann wurde das Scheppern leiser. Ich legte den Kopf an die Hauswand. Leise seufzte ich. Ich war entkommen. Doch merkte ich, wie die Strapazen der Flucht an meinem Körper zehrten und so wurde der enge Spalt zwischen den Wänden mein Schlafplatz für diesen Nachmittag.