Vergangenheit (Teil 3): Schritt um Schritt

Man kann in Tyria sein und doch auch nicht, wie das gehen soll? In dem man träumt. In Träumen muss man nicht in der bekannten Welt sein. In Träumen verlieren sich die Gedanken und man kann sein, was das Unterbewusste einen sein lässt. Mal ist man die Geliebte in Armen voller Zukunft, lächelnd und genießend, dann wieder ist man die Heldin einer Geschichte und eines Lebens, verbringt Taten an denen man gemessen werden wird. Sie, sie war gerade die einfache Tochter, ihre Rührungen bringen sie an die Tür im Rurikviertel, lassen die Finger den Schlüssel ziehen und diese öffnen. Schritte, rasch und trippelnd die Treppen herab klingen in ihren Ohren und kaum sind die Arme geöffnet wird man schon umarmt. Eine dieser Umarmungen wo auch eine Fingerspitze der Berührung reicht, weil man sie alle beim besten Willen nicht umfassen kann. Da ist die Mutter, die ihr den Schopf küsst mit Tränen in den Augen; der Vater mit der Hand an ihrer Schulter und Stolz im Blick, die Schwester lachend und weinend küsst ihr die abseitige Wange und der Bruder, der eine Flut von Worten an ihr Ohr prasseln lässt. Spürte sie gerade noch die Schwere der Rüstung, trägt sie mit dem nächsten Blinzeln einfache Hosen und ein Hemd, findet sich am Tisch wieder und berichtet von jenen Schlachten, die geschlagen und gewonnen wurden. Die Gabel nimmt ein Stück vom Fleisch auf, schiebt es durch die Soße und das Messer wischt noch etwas vom Kartoffelpüree daran.


Im Heben der Hand ein weiteres Blinzeln und ein Tropfen findet ihre seitliche Stirn, rinnt daran herab und verliert sich irgendwo am Metall der Rüstung. Die Finger hoben sich im Traum und halten in der Wirklichkeit Nichts, gar Nichts. Der Magen knurrt, weil der Geist sie in Fieberträumen quälte. An einer Wurzel über ihr sind drei Striche zu sehen, gekratzt mit den abgebrochen, splitternden Nägeln um nicht den Verstand zu verlieren und das Zeitgefühl. Doch wenn Vivienne ehrlich zu sich selbst war, wusste sie nicht, ob sie zu anfangs nicht sogar einen ganzen Tag oder mehr in Ohnmacht verbracht hatte. Mit dem Erwachen kam der Schmerz, dann die Lethargie sich schlicht dem Sterben hinzugeben, gefolgt vom starken Lebenswillen alle nur noch einmal wieder zusehen. Der Durst ließ sie an den feuchten Wurzelenden des umgestürzten Baumes saugen, aber mehr als ein Benetzen von Lippen und Gaumen war nicht zu erwarten bis in den Magen kam es nicht. Das schwarze, knurrende Biest im eigenen Körper, welches verkrampfte und klagte, um sich tritt und nur einen Bissen ganz gleich von was für sich gewinnen will. Drei Striche, drei Mal ging die Sonne erkannt auf und verlor auf ihrem Weg die Funken der Hoffnung, welche sich Nachts in unzähligen Sternen zeigte. Die Musik in den Ohren waren die Rufe und Schreie der Raben, die nur darauf warteten selbst eine gute Mahlzeit abzugreifen und sich manchmal zu viert oder fünft über ihr aufhielten, ihr die ihre Notdurft in die eigenen Rüstung verrichten musste, weil sie sich nicht abrüsten konnte. Aber Hunger und Durst vermögen auch jene Peinlichkeit auf ein niederes Maß zu ringen.


Wieder kratzt der berstende Fingernagel der linken Hand einen weiteren Strich in die Wurzel am Morgen, er bricht und blutet, sie saugt daran den metallenen Geschmack auf der Zunge spürend. Im Krieg starb man, im Krieg ging man verloren. Die Seraphin war verloren, ein Kupferstück, welches den Hosensack durch das Bein der Hose verließ, weil das Loch darin nicht gestopft worden ist. Nur ein Kupferstück, welches jener nicht sucht, der sich vielleicht sogar ein Silberstück leisten konnte. Das Heer war groß, das Feld voller Leichen und vielleicht glaubte man, sie unter diesen übersehen zu haben, oder aber sie wäre eine der schwarzen Greulgestalten, die verbrannte Leiber hinterließen, wenn sie im Wahn die Arme fort streckten und um sich schlugen. Gebannt bis man sie mit sich nahm und beerdigte, Mahnmäler der Kämpfe bis Gras über die Sache wuchs und man an den Krieg nur noch in Büchern dachte. Irgendwo darin wäre auch ihr Name zu finden Korporal Vivienne Madeleine Camille Garthaigh, gekämpft und vermisst an der Doric-See 1330 n.E. und man würde in Götterfels um sie geweint habe bis das Leben einen wieder lachen ließ. So einfach konnte ein Weg sein, so einfach konnte es sein zu sterben. Aber nicht sie, sie war von jeher ein sturer Geist und mit dieser Sturheit würde sie am Leben bleiben. Der vierte Strich an der Wurzel hatte auch der letzte zu sein, auch wenn sie mehr und mehr glaubte zu fantasieren. Denn immer wieder war da dieses rote Fell, Ohren, eine Schnauze nah ihrer, gerade in der Nacht um sie scheinbar zu wärmen.
Aber immer wen sie nach diesem Tier griff, fasste sie ins Leere und als sie nach ihrem Stiefelmesser suchte, um das Tier zu töten, war dieses und das Tierchen fort. Vielleicht hatte ihr Geist sich etwas gerufen, was ihn beschäftigte und nicht vergehen lassen wollte. Sie weiß es nicht, sie sieht es, sie sieht es nicht. Am vierten Morgen aber zog sie sich selbst aus dem Erdloch, kämpfte gegen die Schwere des Metalls am Leib an und sah über die trübe Welt vor ihrem Heim. Wo war der letzte Kampf? Wie weit waren die Siedlungen entfernt und stand noch eine dieser? Klare Gedanken, sei überlegt und doch ließ der Schmerz sie gellend schreien. Denn in der Regung riss der mit ihrer Haut verbackene Stoff an den fleischig, siffenden Wunden. Weiter, weiter, sie musste weiter und wieder trieb sie der Schmerz bald in einen Geisteszustand, den man in Sanatorien behandelte. Nur halb auf ein Knie hatte sie es bisher geschafft und heiße, staubtrockene Tränen wollten den Augen entkommen, ihr Mund zeigte spröde aufgerissene Lippen, welche groteske Formen annahmen unter den Bekundungen des eigenen Leids. Es klirrte das Seraphenkleid, schabte aneinander Metall auf Metall und Wundflüssigkeit schmierte mit frischem und altem Blut jene Reiberei. Aber sie will leben, sie will weiterleben, überleben, davonkommen ganz gleich welches Opfer es kostete. In der nächsten Regung schafft sie es vom Knie auf die Beine, zerrt an den Baumwurzeln, deren Stamm und Krone zu lang und zu weit waren um von ihrem Gewicht in eine Lageveränderung gebracht zu werden. Starr waren die auslaufenden, dem Boden entrissenen Verankerungen ihre Haltestange um sich zu erheben. Der erste tiefere Atemzug straft die vom Boden herauf kriechende Hoffnung mit einem Stich in die Brust, die linke Hand legt sich schwerfällig daran und sie wagte nicht die Augenlider zu senken, weil die nächste Ohnmacht sie wieder zu Boden ringen könnte.


Irgendwo hinter ihr knackte ein Ast und fiel herab, während dunkle Schatten krächzend in den Himmel aufstiegen und sich aufmachen wollten ihre Beute nicht aus den unergründlichen, für manche Menschen klugen Augen zu lassen. Vivienne zuckte zusammen, sie die immer so ruhig und überdacht gewesen ist, ließ sich von einem Ast aus der Ruhe bringen. Ruhe, die ihr ohnehin schon jegliches Körpergefühl nahm. Der erste Schritt fiel unsagbar schwerfällig aus, der zweite nahm sich nicht heraus leichter zu sein und nur zögernd ließ sie von den Wurzeln ab, die sie hätten führen können. Drei Schritte so schwer wie das Tagewerk eines Mannes in einem Steinbruch, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie dies war, erdachte sie es müsste sich so anfühlen. Wieder drei Schritte und es schien das Erdreich wäre weich wie die Federbetten ihrer Mutter, hinter der man die zierliche Frau am Morgen wie am Abend nur erahnen konnten. Es lockte mit dieser Weichheit darauf zu fallen, aber beständig schleppte sie sich vorwärts. Ein leichtes Ziel für einen Schützen oben auf den Klippen und die Seraphin fragte sich, wie es wohl wäre erschossen zu werden? Hörte man den Knall vor dem Schmerz, oder kamen sie Hand in Hand miteinander an gekrochen? Erlosch das Leben sofort, weil der Schütze routiniert war, oder spürte sie den Rest ihres Blutes verrinnen und sie verlassen? Wieder ein Schritt, noch einer, ach es brauchte gar keinen Schützen und eine vergeudete Kugel. Es reichte schon ein schwacher Hieb, selbst ein Schlag mit einem Stein an die Schädeldecke könnte ihr Todesurteil sein. Und wo die Mären und Geschichten einem aufgaben, dass jene die um Leben kämpften sich Hoffnungen machten zu überleben, brachten die Seraphin ihre Vorstellungen um den Tod weiter.


Die Sonne stand zum Mittag und sie schleppte sich immer noch voran, glaubte wenn sie sich umblicken würde die Wurzel nur eine Handbreit fort zu sehen. Alle möglichen Arten ihres Todes waren ihr schon in den Sinn gekommen, keine schien wirklich erfreulich und doch waren sie alle auf eigene Weise eine Erlösung. Wieder war hier und da das rote Fell abseits zu sehen, wieder waren da die Raben und Vivienne wähnte an der Grenze ihrer Blickweite ein Gebäude. Ungnädiger Wahn, wie kann er ihr einschleichend offerieren, sie könnte doch ihr Leben behalten. Ein verächtliches Schnauben, aber wohin anders sich wenden, wenn man am Horizont doch ein Ziel vor Augen bekam. Weiter, noch ein wenig weiter dann könnte sie vielleicht jemanden erreichen und vielleicht war da mehr als eine Ruine. Aber angesichts ihrer Lage, wäre genau dies zu vermuten. Sie sah ein Haus und wenn sie es erreicht, dann ist es nur mehr eine Mauer, ein eingestürztes Dach und die Quittung sich dem Tod bisher so tapfer entzogen zu haben. Das Seufzen in Verachtung, wurde zum Schmerzlaut, der Schmerzlaut wurde zu einem Schrei und der Schrei begleitet von verzogener Miene, war doch nur ein raues, heißer wirkendes Gekeuche. Vielleicht noch gut zwanzig Schritt blieben und noch immer war es ein Haus, gar ein Hof und keine Ruine. Dann wieder etwas unüberwindbares in ihrem Zustand, ein kleiner Zaun mit zwei Latten, etwas über Hüfthöhe und doch sie kann nicht darüber steigen. Auf die Knie fallend, mühte sie sich zwischen den Latten hindurch, doch die Haltung trieb einmal mehr das Material der Rüstung in die entzündeten, stinkenden Brandwunden. „Hilfe.. ich.. brauche.. Hilfe..“ es knackt, die untere Latte gibt wegen ihres Gewichtes nach und zerbricht, Vivienne fällt im V des Bruchs zu Boden, streckt die Hand noch nach vorn. Schritte, das Kinn der Seraphin hebt sich, erkennt den Schemen einer Frau, die sich rasch nähert. Dann wieder Dunkelheit, ein letzter Gedanke. - Ich darf nicht sterben. -

Kommentare 8

  • Ein gelungener Abschluss, noch immer ein Zeichen von der intensiven Beschäftigung mit dem Charakter und den Thematiken ohne überzogene Heldengeschichten aus dem Groschenheft mit der richtigen Würze von ein wenig Ekel und Mitleidserregung. Gefällt mir sehr gut.

  • Yay, Melandru stärke deine Wurzeln. Immer wieder schön platzierter, bodenständiger Siffekel zwischen all der Metaphorik.


    Aber die Formulierungen in den Vivienne-Geschichten sind irgendwie anders/durchwachsen/geschwollen, hat das irgendwas mit ihrem Charakter bzw. Geisteszustand zu tun?

    • Ja, es zeigt ein wenig ihren eigenen Geisteszustand und ich hoffe, es ist nicht zu viel.

  • Ich mag ihren Kampf gegen den Tod in Bezug auf die Hartnäckigkeit die sie hier an den Tag legt. Sehr stimmungsvoll geschrieben und ich hatte zwischendurch einen Schauer.

    • Das mit dem Schauer freut mich, so konnte ich dich wenigstens fangen mit dem Text. Danke dir für deinen Kommentar und eine Worte. *knuddel*

  • Ich darf als erstes: Du weist...alles was ich dir schon sagte trifft hier wieder zu,ich mags unheimlich von ihr zu lesen und ich fiebere immer mit. Danke das ichs immer als erstes lesen darf. <3 <3 <3