Der brodelnde Norden



„Wer soll mich besingen, in den Todesschlaf mich schleudern, wenn ich den Pfad des Todes geh‘ und der Weg ist kalt, so kalt.
Ich habe die Lieder gesucht, ich habe die Lieder gesungen, als der tiefste Brunnen mir die Tropfen gab, von Todesvaters Versprechen.
Ich weiß alles, Rabe, wo du deine Augen versteckst.“


Schweigend war sie den Weg zurück gegangen. Vertieft in eigene Gedanken, aus denen sie doch immer wieder gerissen wurde. Riesenbezwingerin. Es klang hervorragend.
Die Schlacht war gewonnen, der Preis jedoch hoch gewesen. Viele Brüder und Schwestern waren gefallen und in die Nebel gegangen. Und der Stein, den sie nur durch Zufall gefunden hatte, er wog gefühlt unendlich schwer unter den Lagen des Wolltuches.
Der Plan war gänzlich aufgegangen und es war ein einziger Triumph, dass die Horde an Drachenbrut so ahnungslos und naiv den Pfad entlang gewandert war. Tork hatte nicht zu wenig versprochen und ein paar Mal musste sie darüber grinsen, was sein Können aus der Brücke gemacht hatte. Ihre Ohren fiepten nach wie vor ein wenig, doch sicher würde sich das legen.
Der große Erfolg sorgte für ausgelassene Stimmung auf dem Rückweg. Die Gefallenen wurden in schiefen und lauten Gesängen geehrt, denn auch sie hatten ihren Teil beigetragen. Sicher würde das Wolfsrudel nun zu neuen Höchstleistungen auflaufen, nach diesem Sieg.


„Wer soll mich besingen, in den Todesschlaf mich schleudern, wenn ich den Pfad des Todes geh‘ und der Weg ist kalt, so kalt.
Und früh am Ende des Tages, weiß nur der Rabe, ob ich falle.“


Laut den Erzählungen war es ein glorreicher Kampf gewesen. Wo Tork und sie sich mit den drei Sprengwütigen um die kleineren Riesen gekümmert hatten, da stifteten die Bogenschützen, Magier und Kämpfer Chaos in den vorderen Reihen der Drachenlecker. Sie fielen ihnen in die Flanken, überrannten sie von vorn und hinten und dünnten die Anzahl der Feinde schon mit den ersten Schlägen gewaltig aus. Immer wieder mischte sich ein Anderer in die Erzählungen mit ein, beschrieb die Kämpfe noch brutaler, noch heldenhafter und jedes Mal gab es noch ein weiteres Detail, das den Kriegern und Kriegerinnen den Sieg gebracht hatte. Es war wie immer.
Und dieser Sieg lies neue Kraft aufflackern. Die Entschlossenheit, niemals aufzugeben und sich dem Drachen nie zu beugen. „Niemals werde ich vor dem Drachen knien!“, brüllte einer und bekam eifrige Zustimmung. Ja, sie waren furchtlos. Heldenhaft und tapfer, auch waghalsig waren sie gewesen…


Die Diener des Drachen waren dies ab einem gewissen Grad jedoch auch.
Entschlossen. Kämpferisch. Gelenkt.


„Wenn du am Tor des Todes stehst und dich losreißen musst, will ich dir folgen über die gewaltige Brücke mit meinem Lied.
Du wirst dich von den Fesseln befreien, die sich binden.
Dolyaks sterben, Sippen sterben, auch du wirst sterben.
Aber das Wort wird niemals sterben, wenn du einen guten Ruf gewinnst.“


Der Geruch von verbranntem Fleisch lag ihr noch immer in der Nase. Immer wenn sie einen Atemzug tat und kalte Wölkchen sich vor ihrem Gesicht in der Luft verflüchtigten, biss es zu. Sie mochte den Geruch nicht. Dennoch hatte sie den Drang, sich diesem immer voll auszusetzen. Als wäre sie es ihren gefallenen Brüdern und Schwestern schuldig. Die segnenden Worte der Schamanin würden die Gefallenen sicher in die Obhut des Raben geben, der sie in die Nebel geleitete.
Sie waren einen guten Tod gestorben. Einen heldenhaften Tod. Einen, von dem man sich noch lange erzählen würde. Da war sie sich sicher.



„Eines weiß ich vor allem:
Man wird niemals sterben, der Ruf hallt weiter als der Tod.“




Mit den letzten Zeilen verklang das Lied, das durch den Borealis-Wald drang. Trotz der ausgedehnten Feier am Abend der Rückkehr, saß das Weib in der Früh mit der kleinen Tochter auf dem Hüttendach zwischen Gräsern, Blumen und kleinen Sträuchern. Sie strich dem Mädchen die kleinen roten Locken aus der Sicht und tippte ihr auf die Nase.
„Ma..? Wir Vaf besuchen?“
„Heute nicht.“
Sóla schürzte unzufrieden die Lippen.
„Er hat seinen Weg gewählt, Wölfchen. Aber eines Tages werden wir ihn wieder sehen.“
Das Kind blinzelte ein wenig und legte den Kopf schräg, sodass die dünnen, halblangen Locken wieder wild über ihren Schopf purzelten. Das Weib schmunzelte breit und der kleine Stein mit den eingeritzten Worten ruhte sicher in ihrer Tasche.
„Ist er bei Ma und Pa?“
Die Rote sah ihre Tochter einen langen Moment schweigend an. Dabei dachte sie zurück an das Gespräch mit dem stillen Hünen, das vor endlos langer Zeit gesprochen worden war. Schließlich nickte sie langsam.
„Hm... Doch, ich denke dort ist er.“


Ja, ihre Brüder und Schwestern waren einen guten Tod gestorben. Einen heldenhaften Tod.
Einen, von dem man sich noch lange erzählen würde.




Ich habe meinen Weg gewählt. Mögen die Geister euch behüten.

„The Norn will not change simply because the Dwarves do not understand our ways.
I'd rather be hated for who I am than loved for who I am not.“

Jora

Kommentare 12

  • Nornische Lebensphilosophie in a Nutshell. :D

  • ganz groß. Danke fürs Teilen.

  • Super Ausklang. Danke dafür.

    • Es wird so langsam doch zur schrecklichen Gewohnheit. Aber bitte.

    • Das soll der letzte gewesen sein, einen dritten wird es nicht mehr geben.

  • Ich habe nach einer Geschichte gefragt ... und bekomme ein Meisterwerk. Nia! Du hast dich mit dieser Abschlussgeschichte bei weitem übertroffen. Ich weis nicht was ich sagen soll ... Nach diesem Plot fühl ich mich durch diese Geschichte für die Mühen mehr als belohnt!
    Vielen herzlichen Dank!!! :)


    Möge der Rabe seine Kinder allzeit und auf dem Weg zu ihren Brüder und Schwestern behüten ...

    • Wow, jetzt fühle ich mich echt geschmeichelt. Danke Dir für das Lob und die Spielleitung bei dieser heroischen Reise. Es hat wirklich Spaß gemacht. :)

  • Boah, Nia. Ich bekomm Gänsehaut und das, obwohl ich nicht in der Materie drin bin. <3

  • Ich mag heulen. Maaaaaah