Therapeutische Gespräche

Mit meiner neuen, schiefen Perspektive gefiel mir die Stadt schon viel besser. Anstatt mich von all der Zerstörung ablenken zu lassen, konnte ich jetzt endlich wieder einen Schritt zurück treten und das Gesamtbild betrachten und das war förmlich poetisch! Der einstmals von den Fluten verschlungene und an den Ufern erneut aufgebaute Freihafen befand sich nur in einer Phase der Veränderung. War das versunkene Löwenstein die Larve, dann handelte es sich bei der grob aus Wracks zusammengezimmerten Uferstadt lediglich um die Puppe. Und jetzt, wo die Haut gebrochen war, dauerte es gewiss nicht mehr lang, bis das ausgewachsene Tier zum Vorschein kam. Ich war schon so gespannt.


Selbstverständlich fand ich es noch immer höchst bedauerlich, dass so viele ihr Leben hatten lassen müssen. Doch inzwischen war ich zu der Erkenntnis gelangt, dass ich nicht jedem geknickten Grashalm nachweinen durfte. Schlimme Dinge geschahen, doch mich wie eine Mimose davon beeinflussen zu lassen, das war wahrhaftig der Weg in den Albtraum. Zu meinem eigenen Besten hatte ich entschieden, mir meine gute Laune durch so etwas nicht mehr verderben zu lassen.


Und so saß ich auf der Klippe und sah den den Arbeitern bei ihren Aufräumarbeiten zu. Ich hätte ihnen helfen können, aber ich vertraute weder ihnen noch mir weit genug, um dieses Risiko zu wagen. Und als hätte ich sie bestellt, meldete sich eine leise, nagende Stimme in meinem Hinterkopf.


"Sie fürchten dich", flüsterte sie. "Es wird nicht lange dauern, bis sie dich jagen. Du musst ihnen zuvor kommen. Du musst sie alle töten!"


"Und sie dann aufessen!", befahl eine zweite Stimme spöttelnd.


Darauf konnte ich nur grinsend den Kopf schütteln. "Ich schaffe doch niemals einen ganzen Menschen. Wie soll ich da alle essen?"


"Ich bin enttäuscht von dir", kommentierte die zweite Stimme und fügte dann mit ironischem Tadel an. "Du hättest es wenigstens versuchen können."


"Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie weder töten, noch essen will", stellte ich fest.


Der Spott, Sarkasmus, die Häme und Ironie meiner zweiten inneren Stimme hatten mir gezeigt, wie skurril die Einflüsterungen der ersten waren und mit der Zeit waren auch die Halluzinationen weniger geworden. Die Welt ganz ohne Filter zu sehen, war faszinierend. Überall wiederholten sich filigran-verschlungene Muster - sei es im Aufbau einer Stadt, im Verhalten ihrer Bewohner, in den von ihnen geschaffenen Werken oder im Lauf der Natur. Auch meine Träume hatten sich beruhigt. Sie drehten sich längst nicht mehr um brennende Wälder, leidvoll sterbende Wesen, Dornen und Angst, sondern waren wieder wie vormals, Erinnerungen an meine Zeit im Traum - Visionen, die ich bei meinem Aufwachen aus den Augen verloren hatte.


"Was willst du dann?" Ein meckerndes Lachen begleitete die Frage, als wäre die Antwort schon bekannt.


"Sicherheit ... Schutz ... Geborgenheit", raunte die erste Stimme suggestiv. Was lange Zeit einer ohrenbetäubenden Kakophonie glich, war inzwischen viel, viel leiser geworden.


"Ma-", begann ich ganz instinktiv, entschied mich aber anders und antwortete ernst und mit nur einem leichten Lächeln. "Es fühlt sich gut an, frei zu sein. Ich will, dass mehr diese Freiheit genießen können."


Wieder Lachen. "Dann öffne die Türen, die ihnen im Weg stehen!"


Mein Grinsen kehrte zurück. "Ich werde sie alle öffnen!"


"Ah! So ist's brav", gurrte die Stimme. "Ich wusste, auf dich ist Verlass, mein unabhängiger, kleiner Lieblings-Agent!"


Mein Grinsen schwand etwas, die Augen - eins sichtbar, eins hinter der Maske - verengt. "Ich bin dein unabhängiger, kleiner Lieblings-Agent? Warum das?"


"Weil du allein arbeitest", kam prompt die Antwort und das breite Grinsen war hörbar. "Und weil du nicht sonderlich groß bist."


Trotz des aufkeimenden Frusts mit der unzureichenden Antwort musste ich erst lächeln, dann kichern. "Lieblings-Agent hat mich mehr überrascht."


Was auch immer die erste Stimme dazwischen sprach, ging in der Antwort unter. "Das wundert dich? Du siehst aus wie ein gehäuteter Mensch! Wie könnte ich dich nicht lieben?!"


Das brachte mich endgültig zum Lachen. Das Muster lag bar vor mir. Er hatte mir nicht geholfen, weil er Mitleid mit mir hatte oder weil ich besonders verletzlich war, sondern einfach nur, weil ihn mein Aussehen amüsierte. Willkür - die beste Voraussetzung für eine zukünftige Zusammenarbeit. Aber immerhin war er ehrlich.


"Sehe ich wirklich wie ein gehäuteter Mensch aus?", fragte ich grinsend in mich hinein. Die Antwort hätte ich mir - wenn ich ehrlich sein soll - auch denken können.


"Es gibt nur einen Weg, das heraus zu finden."

Kommentare 4

  • Klingt wie der Beginn einer wunderbaren...Serienmordreihe? :0 :D

    • Vielleeeeeicht... *unschuldig* :rolleyes:

    • Ich hol den Rest auf jeden Fall in Bälde nach. :D

    • Freut mich, dass es dir gefällt. Die nächsten fünf sind aber eine abgeschlossene Kurzgeschichte zu einem anderen Charakter. Aus Gründen nahenden Plots rückt die schräge Sylvari vorerst ein wenig in den Hintergrund.