I.

In dem Moment, als er die Augen aufschlug, hörte das Rauschen auf.
Das Rauschen, von dem er nicht gewusst hatte, dass es da gewesen war. Ein weißes Rauschen, das nicht durch seine Lautstärke penetrant bis hin zu schmerzhaft gewesen war, sondern durch den Druck, den es auf das Trommelfell ausgeübt hatte. Ein so monotones Geräusch, dass es zu einem permanenten Begleiter im Hintergrund geworden war, der nicht mal mehr wahr genommen wurde. Nur seine Abwesenheit, die nun ihrerseits einen ganz eigenen Druck auf das Trommelfell ausübte - nur in entgegen gesetzter Richtung - war präsenter denn je. Einen Moment lang glaubte er, dass sein Kopf jeden Moment zerplatzen müsste, als hätte man ihn in ein vollständiges Vakuum gesperrt, um wissenschaftlich genau zu beobachten, was dieses Vakuum mit einem menschlichen Schädel anrichtete, aber auch dieses Gefühl war nach einem kurzen Moment vorbei und wurde von etwas Warmem, etwas Vertrautem ersetzt, was mit Worten schwer zu beschreiben war. Das erste, was ihm dazu einfiel, war: Zufriedenheit.
"Hey", war das erste Wort, was über die Wärme und Zufriedenheit hinweg zu ihm durchdrang, doch selbst in dem Wort lag die gleiche Art von Geborgenheit, die ihn wie ein warmer Mantel umgab. Er richtete sich auf, schlug die federweiche Bettdecke beiseite, die er bis eben über dem Körper gehabt hatte, schwang die Beine von der weichen Matratze und blieb so einen Moment auf der Bettkante sitzen, während sich seine Augen an die Umgebung gewöhnen mussten, als wäre er aus praller Sonne vor weißer Hauswand gerade in das schattige Innere getreten.
Seine linke Wange juckte und pochte.
Dort, im weißen, hohen Türrahmen stand eine junge Frau, die er kannte und doch nicht kannte. Das Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit wollte nicht weichen, und er erwischte sich dabei, dass er lächelte, bevor er überhaupt anderweitig reagieren konnte. Lächeln war seltsam für jemanden, der geglaubt hatte, es verlernt zu haben.
"Hey", antwortete er, ein wenig heiser, so, wie er seine eigene Stimme in Erinnerung gehabt hatte. Das Zimmer, in dem er war, war in seiner hellen, freundlichen Perfektion ebenfalls genau das, was er in Erinnerung gehabt hatte, obwohl er in seinem Leben noch nie hier gewesen war. Es stimmte alles. Weder Vorstellungskraft noch Verstand meldeten Zweifel daran an, dass alles exakt so war, wie es sein sollte.
"Du kommst zu spät zum Frühstück, Schlafmütze", erklärte ihm die junge Frau, als sie sich vom Türrahmen löste und ein paar Schritte in das Zimmer hinein machte. Von draußen kam warmer Wind und die Mischung aus frisch geschnittener Hecke wie auch in Blüte stehenden Rosen herein, mit einem Wind, der die hauchdünnen, hübschen Gardinen davor in ruhigem Spiel bewegte. Ein anderes Wort für das, was das hier war, schoss ihm in diesem Moment durch den Kopf, wie andere Dinge es Sekunden zuvor getan hatten: Zuhause.
Er hörte sich selbst lachen, als er sich über die Stirn strich und von der Bettkante rutschte. Das Bett war zu groß für ihn, viel zu groß, die Matratze zu weit oben, der Weg zum Dielenfußboden, der mit einem Bettvorleger versehen war, zu weit. Als hätte man ein Bett spezifisch so gebaut, dass sich auch ein erwachsener Mann wie ein Kind im Bett der Eltern fühlen konnte, und doch störte es ihn nicht. Doch war es schon immer so gewesen, dass er erst von der Bettkante rutschen musste, um Kontakt zum Boden haben zu können. Es wäre erst in dem Moment seltsam gewesen, wo es nicht so gewesen wäre.
Die junge Frau hielt ihm die feingliedrige Hand hin, und er nahm sie an, ließ sich von ihr aus dem Zimmer ziehen, mit einer Leichtigkeit, als würden sie beide schweben. Selbst ihre Berührung hatte etwas ätherisches, als würde er personifiziertes Licht berühren. Der Geruch von Kaffee und frischem Röstbrot löste den der Rosen und der frisch geschnittenen Hecke ab, und das Gemurmel diverser Stimmen löste den feinen Gesang von Grünfinken und Buntspechten ab, der eben noch durch das Fenster herein gedrungen war.
"Wer sitzt alles am Tisch?", fragte er, weil er glaubte, dass das aufkeimende Gefühl in seiner Brust Neugierde und Vorfreude war. Vorfreude darauf, endlich zu Hause angekommen zu sein.
"Mama und Papa. Und deine zwei Schwestern, dein Bruder." Es war freundliche Selbstverständlichkeit, mit der die junge Dame sprach, die ihn an der Hand über den Flur geleitete, als wäre er nichts weiter als ein Blatt im Wind, was unter führender Hand den richtigen Weg finden musste. Seine linke Wange stach mittlerweile.
"Schwestern?" Es war seine Stimme, die das frug. Es war seine Stimme, die diese Frage stellte, die so warm und ruhig daher kam, dass es theoretisch Neugierde hätte sein können. Dass es etwas anderes war, was ihn dazu brachte, diese Frage zu stellen, wusste jedoch der Teil von ihm, der ihn auch gerade die Augen schließen ließ.
"Schwestern", wiederholte die junge Dame, sah sich dabei lächelnd über die Schulter. "Du wolltest doch immer Geschwister haben."
Es war der Moment, in dem er wie angewurzelt stehen blieb, denn es war der Moment, in dem alles um ihn herum plötzlich keinen Sinn mehr ergab. Das Zimmer, in dem er eben noch gewesen war - wie hatte es genau ausgesehen? Welche Farbe hatten die Wände gehabt? Wie hatte sich die Bettdecke angefühlt, die er zur Seite geschlagen hatte, welche Farbe hatte der Bettvorleger gehabt, auf dem er vor Sekunden noch gestanden hatte? Wie hatte das, was hinter dem Fenster gewesen war, ausgesehen? Und wer um alles in der Welt war diese Frau, die ihn geleitete? Dass sie kein Gesicht hatte, dass sie keine definierbare Haarfarbe, ja nicht mal eine definierbare Haarlänge hatte, geschweige denn irgendwas an Kleidung, was sein Verstand fähig gewesen wäre, festzunageln, fiel ihm jetzt erst auf. Alles, was vorher so perfekt ineinander gepasst hatte, war nun eine Kakophonie aus Eindrücken. Linien und Farben verschwommen ineinander, als hätte jemand Lösungsmittel über ein frisches Ölgemälde geschüttet, und das, was eben noch weicher, warmer Boden unter seinen Füßen war, das fühlte sich nun an wie scharfkantiger Stein, der sich schon bis zum Knöchel in den Fuß geschnitten hatte.
In seiner Brust prallten Verstand und Sehnsucht aufeinander. Die Sehnsucht, die den Verstand dafür verfluchte, dass er das hier kaputt machen musste, dass sie endlich das gehabt hatten, was sie immer haben wollten, und dass er sich verdammt nochmal nicht mal mit dem zufrieden geben konnte, was ihm geschenkt wurde. Der Verstand, der wie das Kratzen zu langer und zu scharfkantiger Nägel an seinem Hinterkopf saß und sich weigerte, eine Realität anzuerkennen, die nicht seine war. Eine Realität, die nicht etwa das Konstrukt war, was sich jedes lebende Wesen aus der Welt zusammen bastelte, sondern die so falsch war, dass es ihm nicht möglich war, zu schweigen und die Sache auszusitzen. Und obgleich die Sehnsucht tobte und heulte und wütete und zerriss, der Verstand blieb stur wie eine letzte Ähre im Orkan.
"Ich kann nicht mitkommen." Die Worte allein fühlten sich an wie Verrat. Neben ihm schlug ein großes Stück Wand auf den Dielenboden. Holzsplitter flogen, Bausubstanz barst und Backsteine zerschmetterten aneinander, und doch gab es nicht ein einziges, vernehmbares Geräusch. Seine verbrannte Hand ließ ihre los, von seinem Kinn tropfte mittlerweile Blut aus dem Loch in der linken Wange, das ein hübsches, enges Dreieck mit dem Auge und dem Nasenbein ergab. Hinten am Kopf, an der Austrittswunde, tränkte es seine Haare und lief ihm in den Nacken. "Ich kann nicht..."
"Warum nicht? Wohin willst du zurück?" Nun war die Stimme der hübschen, jungen Frau, die ihm so bekannt vorgekommen war, genau so dissonant wie der Rest dieses Bildes, in dem er sich befand. Es waren viele Stimmen übereinander gelagert, und er konnte nicht mal mehr sagen, ob die Stimme primär männlich oder weiblich klang. Oder wieso er glaubte, dass das überhaupt wichtig war, dass hier solche Unterscheidungen getroffen wurden, wo Körperlichkeit keinen Einfluss mehr hatte. Der Verstand jedoch musste sich auf solche Kategorien beschränken, denn nur so funktionierte Fantasie: Das nehmen, was man kannte, und einfach neu anordnen, damit es Sinn ergab.
"Ich kann nicht einfach..." Eine Geste auf eine stürzende Mauer folgte, auf ein Stück Dach, was neben ihnen mit unglaublichem Tösen und doch gleichzeitig vollkommen lautlos in den Boden schlug. "Ich will nicht in einem Konstrukt leben. Ich kann nicht in einem Konstrukt leben." Dass er nicht zum ersten Mal hier war, das fuhr ihm nicht als bewusster Gedanke durch den Kopf, sondern als Gefühl, was in der Brust kurz Pause machte, wie ein erschöpfter Kolibri, dann aber gleich weiter zog. Wie ein déjà vu, was man schon im nächsten Moment nicht mehr bewusst wahrnehmen konnte.
"Es gibt nichts, was dort draußen auf dich wartet. Niemanden, der das tut."
Und doch erwischte er sich dabei, wie er schon zwei, drei Schritte zurück machte. Über diesen Stein, auf dem er lief, der nicht wirklich vorhanden war, der nur ein Gefühl war, besonders im linken Bein. Hätte er Zeit gehabt, darüber nachzudenken, er hätte es mit dem Gefühl eines vollkommen eingeschlafenen Beines verglichen, mit dem man auftreten musste, nur in umgekehrter Reihenfolge: Zuerst war da das Gefühl von tausenden Nadeln, die sich in die Haut kratzten und mit jeder Bewegung schlimmer wurden, dann hatte er kein Gefühl mehr in den Zehen, im Fuß, im Unterschenkel, bis hoch zum Knie. Sein linker Arm... existierte der noch? Er versuchte, eine Faust zu machen, und wurde mit Abwesenheit der Extremität belohnt. Nebensächlich.
"Du wirst nicht ankommen", warnte ihn die kakophone Stimme, die nun nur noch als Gefühl in seinem Hinterkopf vorhanden war, gerade dann, als er sich umdrehte und zu laufen begann. Er fiel, stand wieder auf, lief weiter, nur um ein paar Meter weiter erneut zu stolpern. "Du weißt doch nicht mal mehr, wer du bist."
Und trotzdem lief er, der nicht mehr wusste, wer er war, weiter. Wenn man von etwas, von einem Punkt fortlaufen wollte, dann gab es immerhin keine falsche Richtung.

Kommentare 8

  • Ich dachte mir doch gleich, dass das alles zu gut ist um wahr zu sein. Ich als 100%iger Outsider hab das trotzdem gern gelesen.

  • Wunderschön geschrieben. Alles wunderbar eingefangen, so dass man nicht einmal einer der Insider sein braucht um zu verstehen, worum es geht. Ok, einige Details entgehen mir deswegen bestimmt, aber wayne. Du solltest öfter schreiben!

  • *erwürgt die Lügenstimme*
    Fakenews, fakenews! Die lücht doch!

  • Das hört sich so furchtbar an und tut im Herzen weh. Egal ob schöne Fantasie, oder das Gegensätzliche. Alles scheint so unreal, wenn ich in seiner Situation wäre. Ich finde das so... interessant. Ich bin jetzt schon gespannt ob und wie es weiter geht. Du hast da einen guten Job hingelegt!

    • Vielen Dank. :) Allerdings kann ich noch nicht sagen, ob ich noch eine Episode davon schreibe, weil es eben der totale Insider ist und nicht mehr als 1, 2 Leute interessieren wird. Das war eigentlich mehr ein Experiment, zwischen dem Lernen für Uni-Klausuren, zur Abwechslung. ;)

    • Oh! Nun... wir werden sehen. :)