II.

Der Geruch in seiner Nase war eine seltsame Mischung aus beißender Schärfe und betäubender Milde, als hätte ihm jemand oft genutztes Nasenspray mit Pfeffer garniert. Es half nicht, die Nase wiederholt zu rümpfen und zu schniefen, es half nicht, dass er sich alle zwei Sekunden mit dem Handrücken daran entlang wischte, in der Hoffnung, er könne den Geruch und seine Auswirkungen auf die Wahrnehmung hinfort wischen. Nichts davon half, und eigentlich verwunderte es ihn nicht.
Mittlerweile stand er für mindestens das Äquivalent einer Stunde an Ort und Stelle, ohne einen Schritt gesetzt zu haben. Eine Stunde zu stehen, ohne, dass Zeit in irgendeiner Form existent war, war dabei das größte Kunststück an der Sache; Dass er sich nicht bewegt hatte, war dem Boden des Raumes geschuldet, in dem er sich befand. Hinter ihm hätte eine Tür sein sollen, durch die er herein gekommen war, dessen war er sich so sicher, wie man sich in Träumen eben sicher war, dass Dinge vorhanden waren. Direkt vor ihm befand sich ein Waschbecken mit Spiegel darüber, ein Stückchen weiter links ein Behandlungstisch, auf dem diverse Instrumente lagen, auf dem ein zerbrochener Erlenmeyerkolben wie eine schlecht gewählte Requisite stand, die im Set eigentlich nichts zu suchen hatte, aber der trotzdem vorhanden war. Links von ihm führte eine Treppe nach oben, davor ein Schrank, der allerdings offen stand, aus dem der Inhalt grob herausgerissen worden und auf dem Boden verteilt worden war. Über allem lag eine Schicht Staub, Metallteile waren angerostet, der Spiegel war angelaufen und auch die Fensterscheiben waren blind. Und doch - er kannte diesen Ort.
Das alles war allerdings nicht das markanteste und gleichsam skurrilste Merkmal des Raumes, nein. Der Boden war über und über mit Vögeln bestückt. Singvögel, kleine, zarte Singvögel, die meisten davon Rotkehlchen, und sie saßen derart dicht an dicht, dass nicht mal mehr ein weiterer Vogel zwischen sie gepasst hätte. Sie alle waren am Leben, denn die kleinen Köpfchen mit den schwarzen Augen bewegten sich dann und wann, legten sich auf den Mann, der im Raum stand, sobald dieser sich auch nur einen Millimeter bewegte. Das Schlimmste an der Sache war jedoch, dass es bis auf das feine Rascheln von Federn hier und dort totenstill im Raum war. Sein eigener Herzschlag wie auch seine eigene Atmung hörten sich im Gegensatz zur drückenden Stille wie Donnerschlag und Orkanrauschen an.
Und er war dankbar dafür, dass diese Stille jetzt wieder herrschte, denn die Alternative war schlimmer gewesen.
Es war eben diese metaphorische Stunde her, die er hier schon stand, dass er das versucht hatte, was naheliegend gewesen war: Er hatte die Vögel auf dem Boden mit dem Fuß beiseite schieben wollen, um sich weiter bewegen zu können. Das war gewesen, bevor er gewahrt hatte, dass die Tiere mit den Beinen mit den modrigen Holzdielen darunter verwachsen waren, und es hatte dazu geführt, dass er einem Rotkehlchen die Beine abgeknickt hatte. Das Tier hatte so schrill geschrien und eine derartige Panik bekommen, dass er sich die Hände auf die Ohren hatte pressen müssen. Nein, die Hand, denn die Linke war nicht mehr vorhanden, und so war das linke Ohr nur auf dem Teil der Schulter gelandet, der noch vorhanden war. Eigentlich war das kein Geräusch - es war die akustische Version einer Wurzelbehandlung ohne Betäubung gewesen.
Das Tier hatte so lange panisch mit den Flügeln geschlagen und so lange an den eigenen Beinen gerissen, bis ihm die Beine abgerissen waren und es hilflos flatternd durch die anderen Vögel, quer durch den Raum geflohen war, während es kleinste Blutsprenkel auf seinen Artgenossen verteilt hatte und war dann schließlich in einer Ecke verendet, nachdem es sich noch drei, vier Mal aufgebäumt hatte, und jedes Mal hatte er gehofft, dass es endlich liegen bleiben würde. Dass es endlich sterben würde und nicht mehr leiden musste. Dass sein kleines Herz endlich aufhören würde, zu schlagen.
Seitdem hatte er nicht mehr gewagt, sich zu bewegen. Dass unter seinen nackten Füßen - nein, unter dem einen Fuß - matschige Federn waren, versuchte er zu ignorieren, aber das klappte nur bedingt. Der zweite Fuß, der war im Gegensatz zum Arm noch vorhanden, aber er hatte im halben Bein kein Gefühl mehr. Es war der Grund, weshalb er auf dem Weg hierher ständig gestolpert war, denn das Gefühl war das eines Holzbeines, was am Knie hing. Und gleichzeitig wusste er doch, dass er weiter musste. Dass er den Raum durchqueren musste, weil hinter ihm nichts als blanke Wand war und weil er nicht ewig stehen bleiben konnte. Weil er nicht ewig stehen bleiben wollte, aber was war schon eine kleine Verschnaufpause bei dem Weg, den er noch vor sich hatte, und von dem er nichts wusste?
Er kannte diesen Ort.
"Es--", hob er die Stimme und unterbrach sich direkt wieder. Diese eine Silbe klang so entsetzlich laut und verzerrt im Raum, dass er sich davor regelrecht erschrak, dass er die Lippen aufeinander presste, dass er sich auf die Zungenspitze biss. Es tut mir leid, hatte er sagen wollen. Es tut mir leid, dass ich das tun muss, aber ich komme anders nicht weiter. Aber kein weiterer Laut kam über seine Lippen, keine Silbe, nicht mal ein Schnaufen, denn die Luft stieß er leise durch den offenen Mund aus. Dafür sahen ihn aber dutzende, vielleicht hunderte von schwarzen Vogelknopfaugen direkt an, die meisten davon vorwurfsvoll. Er wollte sich entschuldigen, und wusste doch, dass er es nicht konnte. Dass es nicht ankommen würde. Dass er es nicht mal aussprechen konnte. Und dass es für die Vögel unter seinen Füßen ohnehin keinen Unterschied mehr machte, genau so wenig wie für den, der da irgendwo in einer Ecke verendet war. Es würde sie nicht wieder lebendig machen.
Und dann ging er los. Unter dem ersten Schritt, den er mit dem guten Fuß setzte, knacksten winzige Hohlknochen, das Kreischen zweier Vögel wurde rasch von matschigem Geräusch erstickt, als Reste dunkelrot-schwärzlich unter seinem Fuß hervor quollen, und doch fühlte es sich an, als würde er selbst unter diesem Schritt zerquetscht werden. Es tat ihm leid, es tat ihm so unendlich leid, aber er setzte den nächsten Schritt. Das Kreischen hielt länger an, weil er mit dem tauben Fuß einen der Vögel nur von der Seite erwischte, weil er ihm den Hinterleib zerdrückte, nicht aber die kleine Lunge und den Kopf, und das Geschrei zerriss ihm sowohl Trommelfell als auch Herz gleichermaßen. Sein Verstand verschwendete kurz einen Gedanken daran, welche Vorgehensweise angemessener gewesen wäre: Langsam, vorsichtig, dafür präzise zu gehen, möglichst wenige Vögel möglichst schnell zu töten, damit sie nicht litten, oder weite Sprünge zu machen, so schnell wie möglich von hier fort zu kommen. Panik jedoch nahm ihm diese Entscheidung ab: Er flüchtete. Er setzte die nächsten zwei Schritte rennend, rutschte auf zertretenen Rotkehlchen und Meisen beinahe aus, fing sich mit einer Hand an dem alten, rostigen Behandlungstisch ab, rammte mit der Schulter den Türrahmen des Ausgangs und fiel erst draußen der Länge nach hin, in ein hochgewachsenes Feld aus blaulilanen Kornblumen.
An seinen nackten Füßen klebte außer reichem Mutterboden rein gar nichts.
Nein, er hatte absolut keine Ahnung, welcher Ort das gerade gewesen war.

Kommentare 1

  • Richtig gute surreale Traumatmosphäre in diesem Vogelraum, funktioniert wie ich finde auch als eigene Geschichte.