III.

Die Kornblumen waren das Schönste, was er je gesehen hatte. Dazu war natürlich zu sagen, dass seine Erinnerung zwischen der Ankunft hier, wo oder was auch immer hier war, nicht mehr vorhanden war, aber dass er aus der Hilflosigkeit direkt in ein so weiches Bett voller Schönheit gestürzt war, was ihn gefangen hatte, sorgte dafür, dass er sich lachend auf den Rücken rollte, den Arm und die teils tauben Beine ausgebreitet. Sie rochen herrlich, so wie frische, warme Bettwäsche, in die man nach heißer Dusche schlüpfen konnte, sie waren weich und leicht wie Seide auf der Haut, und mit einem Schlag hatte er beinahe alles vergessen, was gerade noch an seinen Füßen geklebt hatte. Die Sonne, die scheinen musste, kitzelte an seiner Nase, und er erwischte sich dabei, wie er die Augen schließen und bleiben wollte.
Bis zu genau dem Moment, in dem sich eine eiskalte Klaue sowohl um sein Herz als auch in seinen Nacken legte, und er aufsprang, als hätte der Boden selbst mit spitzscharfen Zähnen nach ihm geschnappt. Irritiert stolperte er ein paar Schritte durch das schier endlose Feld aus Schönheit, fiel ob des tauben Beines wieder hin und sprang direkt wieder auf. Es war alles in Ordnung. Das Feld war ein Feld geblieben, die Kornblumen noch immer wunderschön und weich, und doch konnte er dieses unbestimmte Gefühl von Schrecken nicht abschütteln. Es war penetrant wie der Gedanke daran, dass man etwas zu Hause vergessen haben könnte, wenn man sich gerade auf den Weg auf eine lange Reise machte. Wie ein Damoklesschwert, was man nicht sah, aber was man auf einer ganz anderen Ebene der Wahrnehmung als absolute Tatsache annahm, ohne explizit zu wissen, was eigentlich los war.
Mit dem Wissen, dass das hier alles wunderschön war, dass es das war, was er immer gewollt hatte, dass er endlich dort angekommen war, wo er sein wollte, kam das Gefühl um das Wissen, dass er hier nicht bleiben konnte. Dass er weiter musste, weil irgendetwas an dieser Sache hier nicht stimmte, und er den Finger nicht darauf legen konnte. Er bewegte die Lippen, wollte fluchen, wollte schimpfen, und doch kam kein Ton heraus. Die Kornblumen schluckten und töteten jeden Laut, bevor er seine Lippen überhaupt verließ. Mit gefurchter Stirn griff er hinab, umschloss eine der Blüten mit der Hand und drückte zu. Nicht stark, nicht um die Blüte zu zerstören, und dennoch war seine Hand aufgestochen und blutig, als er sie wieder öffnete und sich besah. Dabei hatte sich am Aussehen der Kornblume rein gar nichts geändert. Unschuldig, hübsch, freundlich wog sie sich im Wind, während Blut aus der eingestochenen Haut der Handfläche quoll und wie Wollfäden über die Finger hinab mäanderte.
Die Versuchung, all das zu ignorieren war da. Er war gerade eben dort angekommen, wo er sein wollte, hatte das, was er sich immer gewünscht hatte... wie falsch konnte es sein, zu bleiben? Wie falsch konnte es sein, dieses Geschenk, was er hier bekommen hatte, als das zu akzeptieren, was es zu sein schien und nicht zu hinterfragen, ob es wirklich so war? Was war falsch daran, belogen zu werden, wenn die Lügen doch so viel schöner als die Realität waren? Und was war verdammt nochmal falsch daran, an diese Lügen glauben zu wollen?
Über ihm schrie ein Vogel, dessen Ruf er nicht sofort zuordnen konnte, und so hob er den Blick. Ein roter Milan zog dort am Himmel entlang. Ein Himmel, der keiner war; Dass Schwärze ihn und sein Blumenfeld überspannte, das merkte er erst in diesem Moment. Der Vogel war unerreichbar, und doch setzte er sich mit Blick auf das Tier in Bewegung, ohne auf den Boden vor sich zu sehen, ohne den Blick vom roten Gefieder nehmen zu wollen. Sieben Schritte schaffte er - dann stolperte er das erste Mal über einen der Drähte, die hier gespannt worden waren, fiel, verlor den Vogel aus den Augen, der ohnehin schon längst weiter gezogen war, und sah hinab. Die Haut am Schienbein hatte er sich aufgeschält, als wäre er in ein Messer gefallen, und erst jetzt sah er den Draht, der kein Anfang und kein Ende hatte, im unbestimmten Licht glänzen wie einen harmlosen Spinnenfaden. Still zog er die Stirn kraus, stützte sich mit der einen Hand ab und erhob sich, nur um sich am nächsten Draht das Knie aufzuschneiden bei dieser Bewegung. Einer, den er vorher auch nicht gesehen hatte, und beim Zurückzucken war am Ellenbogen der dritte Draht.
Nein, er hatte nichts mit dem Vogel gemeinsam, der dort geflogen war und mittlerweile weit fort sein musste. Er war nichts weiter als ein jämmerliches Insekt, was in ein Netz gegangen war. Jede Bewegung verschlimmerte das, denn die Fäden um ihn herum schnitten schärfer als jede frisch geschliffene Klinge es gekonnt hätte. Und die Kornblumen lachten ihn aus.
"Du wirst das hier überleben, hast du verstanden?"
Die Worte schneiden schlimmer als die Drähte, obgleich auf einer vollkommen anderen Ebene. Er wirbelte herum, schnitt sich dabei die gesunde Wange an einem weiteren, unsichtbaren Draht an, um den Sprecher ausfindig zu machen; Eine sehr menschliche Reaktion gemessen daran, dass die Stimme keine wirkliche Quelle hat. Weitere Worte echoen wie ferner, rollender Donner über den Horizont, zu weit weg, um verständlich zu sein, von einer Stimme, die genau dafür gemacht ist, wie eben dieser Donner zu klingen. Sie sind nicht freundlich, die Worte, sie sind nicht warm, sie sind nicht fürsorglich, nein. Sie sind schlicht und ergreifend ein Befehl.
"Wie kann ich das hier überleben? Es ist alles, was ich habe", hört er sich selbst konfus antworten, die eigene Stimme dünn, lächerlich gegenüber dem Befehl, der mittlerweile längst verklungen ist, der keinen Sprecher hatte, keinen Ursprung, nicht mal einen wirklichen Sinn in diesem Moment. Er lebte doch. Er war doch hier. Wenn er still hielt, überlebte er ganz bestimmt. Aber ihm war klar, dass genau das eben nicht gemeint war. Still verharrte er für einen Moment, hoffte, dass da noch etwas kam, wusste, dass doch nichts kommen würde, und schnaufte aus, frustriert. Warum hatten die Kornblumen nicht echt sein können?
Dann setzte er sich in Bewegung, ohne jegliche Vorsicht walten zu lassen. Er drehte sich wieder herum, schnitt sich einen Draht tief in den zur Hälfte tauben Oberschenkel, biss die Zähne zusammen und trat einfach durch ihn hindurch, so dass ihm eine makaber präzise Scheibe aus dem Bein geschnitten wurde. Ein weiterer Draht schob sich genau zwischen Mittel- und Ringfinger, so dass er bei der nächsten Bewegung die eine Hand bis fast zum Handgelenk hoch teilte, und doch weigerte sich der Besitzer der Hand, zu schreien. Der Schmerz war nicht in der Hand. Er war tief in der Brust, und er wurde mit jedem Schritt schlimmer. Der dritte Draht pellte ihm ein gutes Stück Kopfhaut rechtsseitig vom Schädel, als er sich hindurch drückte, der vierte, fünfte, sechste, siebte, achte Draht schnitt ihn ebenso wie alle davor, wie ein heißes Messer durch Butter, und Blut mischte sich mit Tränen, als er anfing, zu brüllen und zu rennen. Die Drähte schnitten sowieso. Es machte keinen Unterschied, ob er ging oder lief.
Als er fiel, merkte er es nicht einmal. Es war kein Stolpern, das hatte er die letzten paar Schritte konstant getan mitsamt des zerschnittenen Körpers, der aller Logik nach schon längst den Dienst eingestellt haben sollte, nein, es war mehr - er trat ins Leere mit seinem nächsten, blutigen Schritt, und gleich darauf durchbrach sein Körper eine Wasseroberfläche und versank im Nass. Salzwasser, wie der Geschmack auf der Zunge bestätigte, der nicht mehr nur von Tränen und Blut kam, Brackwasser, wie der Geruch bestätigte, den er in der Nase hatte, obgleich es ihm unmöglich hätte sein sollen, unter Wasser zu atmen, geschweige denn zu riechen. Eine saline Lösung, die nach Algen und toten Krebstieren roch, nach Seepocken, nach fauligem Holz. Aller Logik nach hätte allein das Salz so stark im aufgeschnittenen Leib brennen sollen, dass es nicht auszuhalten hätte sein sollen.
Aber: Das Gegenteil war der Fall. Das Wasser, vollkommen untypisch für den Salzgehalt, fühlte sich wie zähflüssiges, kühlendes und gleichzeitig heilendes Gel an, was seinen Körper einschloss. Wie eine kühle Decke nach einem Sonnenbrand, und der Körper dankte die Schwerelosigkeit durch nachlassendes Schmerzbewusstsein. Dass er den Kopf schon längst wieder über Wasser hatte, während das Wasser ihn für den Moment von ganz alleine mit sich trug, merkte er erst, als er in einiger Entfernung eine Küste ausmachen konnte. Ein Fleck Land, in dessen Richtung ihn die nächste Welle schubste, was allerdings auch gleichzeitig die letzte Welle in diesem entgegen seines Rufes seltsam gnädigen Wasser war.
"Das ist ganz schön weit", kommentierte die Lachmöwe, die neben ihm auf dem Wasser schwamm, wie selbstverständlich. Wie lange war die schon da? Ewig oder seit gerade eben erst? Es machte keinen Unterschied.
"Ziemlich", stimmte er zu.
"Schwimmst du trotzdem?"
"Die Alternative ist, einfach unterzugehen. Natürlich schwimme ich."
"Guter Junge."
Damit rollte er sich auf den Rücken und schwamm los. Langsam, vorsichtig, und er würde sehr viel langsamer dort ankommen als wenn er gekrault oder wenigstens auf der Brust geschwommen wäre, aber so stellte er sicher, dass er ankommen würde, wenn er seine Kräfte einteilte und den natürlichen Auftrieb von sowohl Salzwasser als auch seinem eigenen Körper nutzte. Manch einer hätte ihn für so etwas als faulen Schwimmer bezeichnet, er selbst nannte sich dafür einen klugen Schwimmer, der wusste, dass er nicht Erster sein wollte, dafür aber ankommen wollte.
Was für Blumen waren das doch gleich auf dem Feld eben gewesen?

Kommentare 1

  • Ich finde es waren irgendwie bösartige Blumen. Dass das stinkende Meer dafür so freundlich war fand ich aber nett.