Narben

Was für ein erbärmlich bescheuerter Abend. Zu diesem Schluss kam ich, als ich nun frisch gebadet auf dem Wannenrand saß. Das heiße Wasser hätte ihn abwaschen sollen, aber die Stille im Haus war nicht in der Lage meine Gedanken zu übertönen. Das tat sie schon lange nichtmehr. Und auch jetzt war mir bewusst, dass das nicht gesund sein konnte. Trotzdem war ich hier.
Ich war hier und betrachtete die Frau, die mir gegenüber saß. Sie war mir so vertraut. Und dennoch wusste ich mit unzweifelhafter Gewissheit, dass sie nicht zu mir gehörte. Sie war jemand Anderes. Zum ersten Mal fiel mir heute auf, wie müde sie aussah. Ja, irgendwie ausgezehrt. Ihr Blick war stumpf und die Gesichtszüge zeichneten sich deutlicher ab als jemals zuvor. Klar, Schnee hinterließ nunmal seine Spuren. Ich wusste das. Sie wusste das auch.Und trotzdem sah ich ihr dabei zu, wie sie nach dem Mariani-Glas auf dem Wannenrand griff und es leerte. Es musste Mariani sein. Zwar war sie es, die ihn trank, aber ich schmeckte ihn auf meiner eigenen Zunge. Wasser tropfte ihr aus den dunklen Locken, doch ihre Wangen waren aus anderen Gründen nass. Ich hätte sie danach fragen können, aber die Vorstellung ihr zu nahe zu kommen stieß mich ab. Dummes Ding. Als ob das irgendjemandem helfen würde.
Angewidert entzog ich ihr meine Aufmerksamkeit und schloss die Augen. Stille. Unwillkommene, verhasste Stille. Das Anwesen war zu einem Haus voller Geister und Erinnerungen verkommen. 'Tu dir das nicht an.' Helena'sWorte waren das gewesen. 'Bürde dir nicht auf, alles zusammenhalten zu wollen.' Als ob ich das hätte schaffen können...
Nein! Ich hätte es geschafft. Aber sie, die Andere, war nicht in der Lage dazu!
'Zuviel Konfliktpotential...' Obwohl ich gar nichts gesagt hatte, lächelte mir mein Gegenüber nun zu, als ich wieder zu ihr zurück sah. Es war kein schönes Lächeln. Viel mehr sah es so bitter aus, wie der Geschmack es war, der mir langsam die Kehle hinauf kroch, und so zynisch und verachtend, wie die leise Stimme klang, die sich beständig genötigt sah, mich an meinen Wert zu erinnern. Sie sprach zu der Falschen.
'Ich bin schon ein bißchen verknallt. In dich. In ihn. In die Möglichkeiten...' Warum sagte man sowas? Gesprochene Worte waren Waffen, die man anderen bereitwillig in die Hände legte. "WARUM HAST DU DAS IMMERNOCH NICHT KAPIERT?!" Ich schlug sie. Einem tiefen, spontanen Impuls folgend schnellte ich vom Wannenrand hoch und schlug ihr mitten ins Gesicht. Das Klirren des berstendenSpiegels ließ mich für einen Moment freier atmen. Wirbelnde Scherben reflektierten unregelmäßig das Licht. ...ein bißchen wie Schneeflocken... Eins. Zwei. Drei. Vier... Dann lagen die Splitter zu meinen Füßen und es wurde egal, wieviele es waren. Wichtiger war etwas anderes. Ich nahm eine Scherbe vom Boden auf und stellte meinen Fuß auf den Wannenrand. Das nämlich hatten sie versäumt: Ihre Zeichen zu hinterlassen. Mit flüssigem Rot zog ich entschlossen zwei unregelmäßige Schnitte rund um das Fußgelenk. Zwei mussten es sein. Nah beieinander. Aber weit entfernt von mir. Dieses Recht hatten sie sich erworben.
Es war nicht genug. Mit der Gewissheit mir ab morgen nur noch selbst im Spiegel zu begegnen griff ich nach den schwarzen Locken. Jemand lachte leise, während sie fielen. Und irgendwo rechts von mir hörte ich dumpf etwas hämmern. Aber all diese Eindrücke wurden gedämpft von einem Rauschen, das in meinen Ohren langsam anschwoll, bis es zu einem Dröhnen wurde und den ganzen Raum zu erfassen schien. Ich kannte das schon. So begann es immer. Und gerade als jemand die Zimmertür aufstieß erlosch im Bad jegliches Licht.


Ich saß in der Küche und sah Sneshana dabei zu, wie sie mir Splitter aus der Haut zog und den Fuß verarztete. Wie praktisch, eine Ärztin im Haus zu haben. Sie schien unglaublich weit fern zu sein. Ich machte mir nicht die Mühe ihren Gesichtsausdruck zu deuten oder ihren Worten zu lauschen. Aber es war in Ordnung, dass sie den Knöchel säuberte und verband. Es würden Narben zurückbleiben, dafür würde ich schon sorgen. Mit Ärzten diskutierte man nicht.
Der stechende Schmerz hinter meinen Augen verriet mir, dass im Bad etwas geschehen sein musste, ich wollte mir jedoch nicht die Mühe machen und nachsehen gehen. Auf keinen Fall durfte ich vergessen bald mit Ley zu sprechen. Diese beiden Narben noch. Aber jetzt wurde es Zeit, dass ich endlich meine eigenen Spuren auf mir hinterließ.

Kommentare 3

  • Angry Lynn is angry. Aber wie Mahorka schon gesagt hat, finde ich es echt gut geschrieben. Aber das weißt du ja, meine Liebe <3

  • Voll gut geschrieben, was ist los mit dir?
    Ich mochte den Übergang vom Bad zur Küche sehr. Dieser schlichte Cut ist unheimlich wirkungsstark. Gefällt mir gut!

    • Gell?
      Wie wenn man so aus warmem Wasser ins Kalte zurücksteigt.