Tiefpunkt

Drei Stunden dauerte es, bis jemand die nackte, hilflose und unterkühlte Nillu in der Dusche fand. Zu allem Unglück brach ihr der wohlmeinende Helfer bei seinem Versuch, sie ins Krankenzimmer zu bringen, den linken Arm, schloss dann aber schnell auf ihre Krankheit und vermied weitere Verletzungen. Zwar hätte sie nach drei Tagen bereits wieder am Unterricht teilnehmen können und auch sollen, doch sie blieb lieber auf ihrem Zimmer. Zu groß war die Scham über das Geschehene, von dem zweifellos bereits der ganze Jahrgang wusste. Da sie aber noch keine Freundschaften hatte schließen können, blieb ihr nach drei Tagen des freiwilligen Eremitentums nichts anderes übrig, als ihr Zimmer in Ermangelung von Nahrung doch zu verlassen. Etwas, das sie bereits wenige Momente später bereute.


Auf dem Weg zum Markt hielt Nillu den Blick gesenkt. Sie wollte nicht in den Gesichtern der anderen Studenten lesen, wollte nicht in ihren Augen sehen, wie sie über sie dachten. So bemerkte sie jedoch nicht, dass Carri aus dem Gespann von Flakka ausscherte und direkt auf sie zusteuerte. Erst als die grünhaarige Asura mit der blauen Schleife vor ihr zum Stehen kam und ihr den Weg versperrte, sah sie auf.


"He, Null!", giftete sie grinsend. "Wie du selbstverständlich weißt, beginnt diese Woche die Ausbildung zum Kampfpiloten. Du nimmst auch daran teil, oder?"


Obwohl sie die Falle bereits wittern konnte, blieb ihr keine andere Wahl als zu antworten. "Ja. Ich dachte ..."


"Sehr gut", freute sich Carri. "Weißt du, wir wollen nämlich in der Endwertung gut dastehen und dafür müssen wir von Anfang an viele Punkte sammeln. Du hilfst uns doch, oder?"


Obwohl sie noch nichts gegessen hatte, drehte sich Nillu der Magen um. Die Ausbildung hatte das Potenzial, ihr so viele Möglichkeiten zu eröffnen und jetzt sollte sie mit Absicht schlecht abschneiden? Schwindel überkam sie.


Als sie nicht gleich antwortete, ergrifft die Grünhaarige erneut das Wort. "Du willst Flakka doch nicht in den Rücken fallen!", protestierte sie in einer Mischung gespielter mit Ungläubigkeit gepaarter Empörung. "Du weißt, wie sehr sie das kränken würde!"


Von ihrer letzten Begegnung mit Flakka noch immer angeschlagen spürte Nillu, wie die Tränen erneut in ihre Augen schossen. Um den Druck zumindest ein wenig zu mindern, brach sie den Blickkontakt zu Carri und senkte den Kopf. "Nein", presste sie heiser hervor. "Natürlich helfe ich euch."


"Ich wusste, auf dich ist Verlass, Null." Carris Grinsen sprach aus jedem ihrer Worte. Und bevor Nillu noch irgendetwas erwidern konnte, stolzierte sie bereits wieder an Flakkas Seite zurück und schlug lachend bei ihrer Freundin ein.


Den Rest des Tages erlebte Nillu wie im Traum. Oder besser: Wie in einem Albtraum. Wohin sie auch blickte, zeugten die Mienen ihrer Kommilitonen von Mitgefühl und Scham. Als Xatt, den sie seit sechs Tagen nicht mehr gesehen hatte, mit besorgtem Gesichtsausdruck auf sie zugesteuert kam, tat sie so, als hätte sie ihn nicht bemerkt und wich in die Umkleideräume für Frauen aus. Sie wollte Flakka nicht unnötig provozieren und wenn sie ehrlich sein sollte, hätte sie zwar gern mit ihm gesprochen, aber wusste nicht so recht, was sie sagen sollte.


Auch die kommenden Wochen verbesserten ihre Lage nicht. Die Kampfpilotenausbildung stellte sich als all das heraus, was sie sich immer erträumt hatte. Doch wann immer sie ihre Begeisterung im Unterricht auslebte, Zwischenfragen stellte oder vor, beziehungsweise nach der Lehrstunde mit Professor Flett diskutierte, hörte sie Flakka oder ihre Freundinnen tuscheln, kichern oder abfällige Kommentare einwerfen. Bald beteiligten sich auch weitere Kommilitonen an den Demütigungen und Nillus Beteiligung schwand dahin. Xatt, der inzwischen akzeptiert hatte, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihm wollte, hörte auf, das Gespräch zu suchen und fand sich immer öfter in der Begleitung Flakkas wieder. Nach nur wenigen Wochen brauchte sich Nillu gar keine Mühe mehr geben, in den von Übungsleiterin Kemmo veranstalteten, praktischen Lehrstunden gegen das Quartett zu unterliegen. Stattdessen rutschte sie ganz natürlich in der Gesamtwertung, in der sie anfangs zu oberst platziert gewesen war, ins untere Drittel ab.


Ihr Traum, einen der obersten drei Plätze zu erreichen und ein Empfehlungsschreiben des Kollegs zu erhalten, schien unendlich weit entfernt.