Ein Erwachen in unerwarteter Umgebung

Langsam dämmerte die Asura aus traumlosem Schlaf in den Wachzustand hinüber. Der Druck hinter ihren Augen und ihrer Stirn und der trockene Mund ließen sie annehmen, dass sie noch lange nicht genug Schlaf bekommen hatte und potenziell leicht dehydriert war. Noch mit geschlossenen Lidern tastete sie nach der Brille auf ihrem Nachttisch, griff ins Leere und war mit einem Mal hellwach. Mit einem Ruck setzte sie sich auf, öffnete die Augen und blickte sich hektisch um. Zwar war ihre Sicht durch das Fehlen der Brille etwas verschwommen, doch schon an dem hohen Fenster, welches das Zimmer mit Tageslicht erfüllte und an der nicht vorhandenen Ablagefläche neben dem Bett erkannte sie, dass sie sich nicht in ihrem unterirdischen Labor befand. Sorge mit einer Note der Angst flutete ihren Geist, doch mit einem leichten Biss auf ihre Unterlippe zwang sie sich zur Ruhe und rutschte und kletterte aus dem Bett, um sich umzusehen.


Zu ihrer größten Erleichterung fand sie auf dem Schreibtisch, der direkt neben der vollautomatischen, zweiflügligen Schiebetür schwebte, ihre Brille. Auf dem davor stehenden Hocker befand sich sauber gefaltet ihre Alltagskleidung. Selbst wenn sie sich nicht erinnern konnte, sie dort abgelegt zu haben, war es gut, diese vertrauten Dinge vorzufinden. Da sie keine Ahnung hatte, wo sie sich befand, versuchte sie sich zuerst anhand der Inneneinrichtung, dann unter Berücksichtigung der Aussicht ein Bild von ihrem Aufenthaltsort zu machen.


Der Raum selbst war in typisch asurischer Art gefertigt, wie sie um Rata Sum überall vorkam, enthielt aber weder die sechs- noch die zwölfseitigen Bausteine, die vor allem auf dem Kubus verwendet wurden. Das bedeutete zwar nicht sicher, doch mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass sie sich am Boden befand. Schreibtisch, Bett und Lampen waren freischwebend, der Hocker hingegen stand auf dem Boden - überhaupt war das Bett ein Bett und keine Hängematte. Damit war der Raum deutlich wohnlicher eingerichtet als nötig gewesen wäre, doch Schreibtisch und Hocker passten nicht zueinander. Dass die Lampen nicht fest verbaut waren, legte nahe, dass dies hier entweder nicht praktikabel gewesen war oder der Raum aufgrund des Tageslichts oder vorigen Verwendungszwecks keine Beleuchtung benötigt hatte. Nein, dieser Raum war ganz eindeutig vormals kein Wohnquartier gewesen und kurzfristig eingerichtet worden.


Vom Fenster aus konnte sie eine in Morgenlicht gebadete Dschungellandschaft erkennen, doch keinerlei Landmarken ausmachen, die ihr eine Identifikation erleichtert hätten. Abseits von einigen Vögeln, deren Arten sie nie interessiert hatten und die sie deshalb auch nicht identifizieren konnte, erblickte sie keine größeren Tiere - nachvollziehbar, nur Würmer, Spinnen und ausgehungerte Raubtiere wagten sich mehr oder minder regelmäßig an größere Labors heran, alles andere hielt lieber Abstand. Sie blickte hinauf zu den Baumkronen und versuchte vom Stand der Sonne her die Uhrzeit abzuschätzen. Von dort schloss sie darauf, dass das Zimmer zwischen südlicher und südöstlicher Richtung gelegen war. Weit konnte sie nicht blicken, doch der große Kubus war nirgends zu sehen - sie befand sich also nicht direkt nördlich Rata Sums. Am Abend würde sie darauf achten müssen, ob sie das Leuchtfeuer des zerstörten Reaktors irgendwo ausmachen konnte. Das würde ihr vermutlich mehr Aufschluss über ihren Aufenthaltsort geben.


Als sie sich vom Fenster abwandte, fiel ihr Blick auf die Schubladen des Schreibtischs. Auf der Ablagefläche war kein konklusiver Hinweis auf seinen Besitzer zu finden gewesen, vielleicht aber konnte sie in seinem Innern fündig werden. Entgegen ihrer zynischen Erwartung war die obere Schublade auf der linken Seite tatsächlich nicht leer. Stattdessen fand sie dort ein Bildschirm-Modul für den Schreibtisch, das sie probeweise in der dafür vorgesehenen Vertiefung platzierte. Die Anzeige leuchtete auf, doch der Zugriff auf das System blieb ihr verwehrt, denn schon wenige Sekunden nach dem Startvorgang sah Evvi sich mit einer Passwortabfrage konfrontiert. Da sie keinen Alarm durch ein falsches Passwort auslösen wollte, entschied sie sich dafür, den Bildschirm zu deaktivieren und wieder dort zu verstauen, wo sie ihn gefunden hatte.


In der darunterliegenden Schublade entdeckte sie einige Notizen in ihrer eigenen Handschrift, die sie als Seiten aus einem Büchlein erkannte, das sie gewiss fünf Jahre nicht mehr gesehen hatte. Damals hatte sie sich mit nekromantischen Dienern beschäftigt, ein Unterfangen, das sie längst zugunsten von höherer Forschung aufgegeben hatte. Beim Überfliegen des Inhalts fielen ihr zwei Fehler in den Berechnungen auf, doch konnte sie nicht klar sagen, ob das ein Hinweis auf eine Fälschung war oder ob sie auf ihre eigene Unerfahrenheit in der Materie zurück zu führen waren. Mangels eines Stifts korrigierte sie die Fehler nur mental und wandte sich der anderen Schreibtischseite zu.


Die obere der beiden Schubladen war leer, doch in der unteren fand sie neben Schreibgerät, leerem Notizpapier und Utensilien zur Zahn- und Klauenpflege auch ein faustgroßes Eindämmungsfeld - ein Gegenstand, den sie mit Lebenskraft gefüllt bei sich zu tragen pflegte. Dieses hier war leer, doch trotzdem nahm sie es an sich. Es konnte noch immer als Fokus für ihre Fähigkeiten nützlich werden und vielleicht fand sie ja eine Möglichkeit, es zu füllen. Ihre eigene Lebenskraft würde sie jedoch aufgrund von Durst und Müdigkeit vorsichtshalber nicht anzapfen. Das Risiko, ihre mentalen Kapazitäten zu weit einzuschränken, war ihr einfach zu groß. Dennoch war jetzt ein guter Zeitpunkt, sich um etwas Wasser zu bemühen.


Da sie keine Getränke im Zimmer gefunden hatte, näherte sie sich der Tür. Zu diesem Zeitpunkt musste sie annehmen, dass sie sich unter der einen oder anderen Art von Arrest befand und plante, ihre Wächter um Wasser zu ersuchen. Stattdessen öffnete sich die Tür für sie und gab den Blick auf einen von in größeren Abständen platzierten Lampen nur spärlich erleuchteten, kühlen Gang frei. Rechts und links gingen weitere Räume ab, die vom Abstand der Türen auf die Maße schließend wahrscheinlich wie ihrer aufgebaut waren. Am Ende des Ganges lag eine große Sicherheitstür, auf die sie mit trotz ihrer Vorsicht hallenden Schritten zu trat. Kaum war sie angekommen, betätigte sie den Taster und war nicht wirklich überrascht, als sich auch diese Tür für sie öffnete.


"Frau Doktor!", zuckte der vom Öffnen der Tür überraschte Laborhelfer von seiner Arbeit hoch. "Ihr seid schon auf?"


Der richtige Titel. Vertrautheit. Die ganze Situation war in diesem Moment signifikant komplexer geworden. Evvi entschied, vorerst mitzuspielen. "Ich bin alt genug, selbst zu entscheiden, wann ich aufstehe", ließ sie den deutlich jüngeren Asura mit einem Zwinkern wissen. Bevor er darauf eingehen konnte, schaltete sie in einen anderen Gang und richtete die Frage an ihn. "Status?"


Seine Brust schwoll sichtbar vor Stolz und die braunen Augen leuchteten förmlich. "Alle Präparationen für das Experiment sind praktisch abgeschlossen. Es bedarf nur noch Eurer finalen Abnahme."


"Auf die ich insistiere", stellte sie kühler als beabsichtigt fest.


Der Laborhelfer verhielt sich genau so, wie sie es von einem ihrer Assistenten erwarten würde und doch war er ihr gänzlich unbekannt. Hatte sie bei einem privaten Experiment ihre Erinnerungen verloren? War dies ein Experiment und sie die unbedarfte Probandin? Stand sie unter dem Einfluss von Magie oder Medikamenten? Oder war dies gar alles nur ein Traum? In wie weit konnte sie ihren Sinnen, ja ihren eigenen Gedanken, noch vertrauen?

Kommentare 1

  • Ui da bin ich auf die Fortsetzung gespannt. Hab am Anfang mit Unterwasserstation gerechnet. :D Ich mag wie rational asurisch sie eine eigentlich beängstigende Situation zu erklären versucht.