Die halbe Wahrheit

Erster Akt.


„Oh, nun sei doch nicht so.“ Alejandro seufzte, auch wenn es das amüsierte Schmunzeln nicht aus dem perfekten Schnitt seiner Miene vertreiben konnte. Das nahm der Beschwichtigung irgendwie jeden guten Willen, auch wenn das Bedauern echt war. Der Fürst saß vor dem Brunnen, hatte ein Glas Rotwein in der Hand und wärmte die freie Brust neben der Knopfleiste des offenen Hemdes in der Abendsonne. Im Gegensatz zu Gale hatte er jedoch nicht auf dem steinernen Absatz Platz genommen, der das Wasserspiel säumte, sondern thronte auf einem Stuhl aus dem Kaminsaal. Roter samt, für die wohlgeborene Kehrseite.


„Nein, ich wusste, dass du mich auf den Arm nimmst, als ich es aussprach,“ entgegnete Gale. Die hochgewachsene Anführerin der Rosengarde murrte in sich hinein, zog die Brauen aneinander und umklammerte ihren Wein um den weiten Glasbauch mit allen zehn Fingern.. Mit zusammengezogenen Brauen kannten sie ziemlich alle Wachgardisten. Mit Schmollmund allerdings nicht. Ihr stahlblauer Blick fixierte eine Pusteblume. Dass der Wind in diesem Augenblick die kleinen Federschirmchen davon wehte war wie die reine Ironie des Schicksals. Alejandro hob ein angewinkeltes Bein über das andere Knie und lehnte sich zurück. Sein Getränk ruhte am Stiel gehalten auf der feinen Schnitzerei der Armlehne. Rubinrotes Funkeln im endenden Tageslicht. Er begann sich auf seine rechthaberisch charmante Art zu rechtfertigen. „Du hast mir absolut keine Wahl gelassen, Teuerste. Deine Formulierung war eine Einladung. Und vielen Dank dafür, dass du mir den Stuhl hier her getragen hast. Mein kleiner Himmelsdiamant ist leicht wie eine Feder, aber wenn ich sie den halben Tag herum trage, wird sie irgendwann auch schwer und das macht den Rücken krumm.“ Die Last eines über fürsorglichen, frisch gebackenen Vaters. Dagegen war Gales Rüstwerk ja rein gar nichts. Darauf hob der Fürst das Glas. Er meisterte sein schweres Leben mit Bravour. Terceira, so der Name auf dem Etikett der offenen Flasche, passte geschmacklich wunderbar in die Szenerie. Unaufdringlich, sanft und süß. Ganz wie die Namensgeberin es vor Jahren selbst war. Gales erster Schluck vom Wein nahm die kleine Empörung mit sich in die Magengrube und beließ es dabei. „Ist es gut für sie, wenn du sie ständig herumträgst?“ fiel ihr in den Sinn. „Natürlich,“ antwortete der Fürst, „Miss Cartheigh sagte, Nähe wäre förderlich für die Entwicklung und die Bindung.“ Die Blonde, die dem sowieso schon nicht klein geratenem Mann im Stand auf Augenhöhe begegnete, ihn gar um Fingerbreite überragte zweifelte schon zu Beginn der Antwort an selbiger, verfiel jedoch Silben später in eine nachdenkliche Abwesenheit, die erst von der Fürstenstimme gebrochen wurde.


„Also, noch ein mal von vorne,“ hakte das Goldlöckchen mit dem unverschämt wohlgeformten Leib nach. „Was hat es damit auf sich? Was klappt mit diesen zwei ominösen Personen nicht gemeinsam?“ Er erntete einen Seitenblick mit geschmälerten Lidern, blieb aber vollkommen ernst und gefasst. Es sah aus der Ferne aus, als hätte der König der Weinberge das zu groß geratene, muskulöse Mädchen in ein weißgoldenes Kleid gesteckt und zum Dinner im Grünen geladen um ihr einen Wunsch zu erfüllen. Tatsächlich blieben alle Bediensteten auf seinen Wunsch hin auf weitem Abstand und wunderten sich nicht weiter über den Anblick. Sie spielten im Kindesalter gemeinsam mit Cesare im Heckenlabyrinth, rannten ganz unschicklich mit schmutzigen Hosen über die Pfade durch die Wellen aus Reben und warfen Steine in den Seerosenteich am westlichen Wäldchen. Erst als Leandra alt genug war um mithalten zu können, hörte das langsam auf. Dann war die kleine Halbschwester mehr und mehr auch im Gesellschaftsgefüge der gehütete Augapfel beider Brüder und die jugendliche von Bredow wuchs allmählich in die stählernen Stiefel ihres Vaters hinein. Sie schmälerte die Lippen und strich sich das offene Haar hinter das rechte Ohr, bevor die Hände Kinn und Wein stützten. „Ich kann das Problem, das ich mit der einen Person habe nicht mit der anderen besprechen und umgekehrt. Und beiden schulde ich eine Antwort, weil sie... neben der Familie die einzigen sind, die mir wirklich zuhören.“ Die diplomatische Formulierung fiel dem Fürsten auf. „Du musst mich nicht mit in diesen Kreis holen, denn wir haben in den letzten Jahren selten viel Zeit für solche Abende wie den heutigen gehabt. Es tut mir leid.“ Gale glaubte ihm das sogar und schenkte dem Fürsten ein versöhnliches Lächeln. „Danke, es ist in Ordnung.“ Mit der Annahme der Entschuldigung setzte sie sich wieder weiter auf. Noch immer auf der kühlen Stufe , die Beine wegen dem Rock aneinander gestellt, aber mit geradem Rückgrat. Sie war kein junges Mädchen mehr, auch wenn das Alleinsein mit dem Kinderfreund das Gefühl ein Stück weit wiederbelebte. Alejandro tippte sich mit gehobenem Kinn und weit schweifendem Blick an die Wange. „Es ist verzwickt, wenn du mir nicht sagen willst um wen es sich handelt. Aber ich vermute, die beiden liegen im Clinch? Oder haben sie etwas miteinander? Wäre fast noch schlimmer.“ Vor dem nächsten Schluck verzog er die Mundwinkel. „Nein... nein," intervenierte Gale, "jetzt bin ich mir sicher, dass da nichts passiert ist und nie passieren wird. Zweiteres, meine ich.“ Sie trank ebenso ab. Ein klein wenig mehr. „Dann verstehe ich nicht, wo dein Problem liegt,“ musste der Fürst sich vor ihr eingestehen, „wissen sie, dass du ihnen etwas verheimlichst?“ Gale blinzelte, sah zum sonnenbeschienen Exemplar eines Klischeefürsten aus einem Kitschroman für vernachlässigte Frauen auf und schüttelte entschieden ihr Haupt. „Ich verheimliche doch nichts, nur weil ich...“ „Weil du nicht die Wahrheit sagst? Das ist doch nichts anderes.“ Alejandro schnaubte. Er fiel gerne ins Wort, wenn er eine vermeintliche Essenz eines Umstandes in seinem Denken erkannt hatte. „Stell dir vor, ich habe unserer lieben Köchin neulich auch nicht gesagt, dass ein paar Schuppen am Püree neben der Bachforelle klebten. Ich habe sie unter den Rest einer Süßkartoffel geschoben und es dabei belassen. Ist es nun die Wahrheit, dass alles in Ordnung war?“ Alejandro verzog die Miene. Er hasste die Teile des Fisches, die man nach Melandrus Willen nicht essen sollte. Außer man war das hässliche Untier von Bowen. Das fraß wirklich alles in seinen Augen. Dabei hatte auch Stinker stets einen eigenen Geschmack. „Du bist doch überhaupt nicht so empfindlich,“ warf Gale ein und hob einen Mundwinkel an. Alejandro hatte die passende Antwort darauf parat. „Darum geht es doch überhaupt nicht. Scheinbar sagst du zwei Menschen oder... ist es die Norn? Die Gärtnerin?“ Erst schüttelte Gale den Kopf, dann der Fürst um ihre stille Antwort zu begreifen und als Verstanden anzunehmen, bevor er weiter sprach. „Nein? Gut. Scheinbar sagst du gegenüber zweier Menschen nicht die Wahrheit. Und das obwohl sie gute Freunde sind. Oder mehr? Wie läuft das mit dir und...“ Nun war es Gale, die ihm ins Wort fiel. „Nichts läuft.“ Die Grillen zirpten. Und das ungestört bei einem ruhigen, anhaltenden Nicken des Fürsten.


„Was?“ Gale konnte damit gerade nicht umgehen. Ihre einsilbige Frage war einfach, wie präzise. Vor der Antwort kostete Alejandro noch ein mal von Terceira. Sie war ein gutes Mädchen. „Nun ja, nichts läuft. Das ist dein Problem. Sonst hättest du mich nicht so harsch unterbrochen.“ Er übertrieb in den Augen von Hauptmann von Bredow gerade, doch sie unterbrach ihn nicht bei der Analyse. Er würde es sowieso nicht für sich behalten können. „Das sind die Weinberge der Begierde. Du bist eine Frau, die sonst weiß, was sie will und du kannst überzeugen. Wo ist also das Problem? Davon abgesehen, dass du gerade ein traumhaftes Heim errichtet bekommst und von Stand bist. Fehlt irgend etwas Bestimmtes? Sag es ruhig, ich habe schon viel gesehen und ins Ohr geflüstert bekommen. Cathalina und ihre Vorliebe für Badeöle ohne Badewasser war noch lange nicht der Gipfel aller Einfälle.“ Das musste Gale ja nun auch unbedingt erfahren. Ihr sparsamer Blick in die Wiese forderte die Grillen auf noch ein paar Strophen zu zirpen. Außer seiner eigenen Blutsverwandtschaftsah keine Frau Alejandro so derartig fern von aller körperlichen Anziehung an wie Gale. Es war für sie, als wäre sie eine weitere Schwester seiner. „Ich will nicht irgendwas bestimmtes, Alejandro. Ich will... etwas Echtes. Verstehst du das? Ich bin den ganzen Tag unter Menschen und doch bin ich alleine.“ Der Fürst sah sie unergründlich durchdringend an. Wieder vergingen Herzschläge ohne einen Laut, bis er Worte fand, die er ihr zurückgeben konnte. „Darum versinkst du in Arbeit, machst dir welche, wenn du keine findest und malträtierst unseren neuen Baumeister mit täglichen Kontrollen, nicht wahr? Glaube nicht, dass das niemand bemerkt. Man hört dich in deinem eisernen Kleid allzu oft im Flur wandern und deine Stimme wird auch von mal zu mal lauter.“ Schuldbewusst ließ sie ihr Haupt sinken. Das Gefühl, den Fürsten anzustrengen machte den Magen flau, gleich wie freundschaftlich man sich unter vier Augen begegnete. Die Angst zu versagen überschattete als einzige jene vor der Einsamkeit bis in alle Ewigkeit. Ganz anbei war er nun ein mal der Herr über allem hier. Das flößte jedem hier ein Grundmaß an Respekt ein. Nur die Krone stand ihm als Verwalter der Weinberge über. Ein hochgehaltenes Prinzip der Familie, dies immer wieder zu betonen. „Gale, fang mit dem Unechten an. Ein wenig Spaß. Das vertreibt die Zeit und entspannt. Du wirst mich für diesen Ratschlag hassen, ich weiß, aber du wirst darüber nachdenken. Spätestens wenn du heute weintrunken im Bett liegst. Oder du stehst deine Frau und sprichst dich endlich aus. Wenn du in eine Freundschaft die Saat der Geheimnisse um zwischenmenschliche Probleme legst, wird sie keimen, gedeihen und irgendwann groß genug sein um alles zu zerbrechen. Das ist wie mit diesen vermaledeiten Hundsblumen, die wir ständig aus der Ruine reißen müssen.“


Die Schwalben bemühten sich nahe der Fassade um ihr abendliches Mahl. Sie durften von je her am Haupthaus selbst nisten, wenn sie es wollten und wurden stets als Teil der traumhaften Schöpfung Melandrus, wie auch der Arbeit von Alejandros Vorfahren geschätzt. Der Sonnenuntergang rahmte die Grabsteine auf der anderen Seite der zentralen Siedlung. Etwas, das man von hier aus sehen konnte. Ein Mahnmal und ein Andenken, einst vom Bauherren, der den Grundriss entwarf so gewollt und geplant. Das Zusammenspiel zwischen dem Weltenlicht und dem Tode. „Ich will mich nicht auf irgendwen einlassen. Es ist traurig genug, dass ich allen erzählt habe ich hätte eine wunderbare Nacht in Löwenstein verbracht. Dabei saß ich mit Rum am Strand und musste beobachten, wie ein großer Mann mit einem Skritt ein Seil gegen eine halbe Schüssel tauschte, nachdem diese wertvoller schien als meine leere Flasche... Er hatte einen Hund, den er Möwe nannte, es war furchtbar. Furchtbar seltsam.“ Gale hob die Brauen an und trank ab. „Du lenkst ab,“ fällt Alejandro auf. „Und ich habe deine Lüge vernommen, dir aber nicht geglaubt. Menschen deuten nichts an, was sie sonst für sich behalten würden. Entweder sie erklären sich in Gänze, erzählen auf Nachfrage hin alles oder lassen es bleiben. Du bist nicht geschwätzig und auch nicht unbedacht genug, um etwas mehrfach versehentlich fallen zu lassen.“ Die Anführerin der Rosengarde hob ertappt, wie auch ein wenig beschämt einen Mundwinkel an und pustete den Atemzug zwischen den Lippen an den Glasrand aus. „Es wäre jetzt einfacher für mich, wenn du der Mann wärest, den du auf Festivitäten gibst.“ Die Forderung lies den Fürsten still schmunzeln. „Ja, ich wollte mich interessant machen. Ich wollte jemanden eifersüchtig machen, aber der Plan scheiterte schon, als ich es mir vorgenommen hatte und dann fehlte mir der Mut. Ich bin einfach keine, wie manch andere.“ Diese kleine Bitterkeit ließ die Lider fallen. „Zum Glück,“ warf der Goldjunge unvermittelt ein und ließ die Brauen bedeutungsschwanger zucken. „dann kannst du das ja demjenigen glauben, der dir das ein mal von Herzen selbst sagt. Oder derjenigen...“ Die Andeutung ließ Gale zuletzt stocken.


„Das war Tavernenphilosophie. Ich bin besseres von dir gewohnt. Mehr Glanz, mehr Sinnbilder." Eine Herausforderung, die der Weinfürst ohne Umschweife annahm. Er erhob sich, schwenkte den Wein betont sinnfrei im überzogenen Maße und blickte stoisch in das fallende Wasser. Die freie Hand ballte sich zur Faust. Dramatik in seiner ganzen Haltung. Das entlockte Gale ein unfreiwilliges Schmunzeln, wider manch schwerer Gedanken. „Du glänzend Klinge, die mein Herz behütet und das deinige in Unmut ertränkt.“ Das Theaterstück nahm seinen Lauf und die Dame, die so manchen Mann hier beim Armdrücken schlagen konnte hob die Hand vor Augen und lächelte weit. Dieser viel zu reiche Gaukler. „Nimm dich an als Zierde eines Goldschmieds', der sein Handwerk nieder legte,“ fuhr Alejandro fort und wanderte dabei beschwingt um ihren Sitzplatz her, bis die Hand auf Gales Schulter lag. „Einer, der nie wieder solch Augen, wie der Westhimmel zur Morgenstunde in eine Fassung legt, sie formt und festigt. Ein Meisterstück, unbeugsam, stark und doch so hold mit einem Lächeln, das kein Maler einzufangen vermag.“ Da lachte sie herzlicher auf und legte den gekrümmten kleinen Finger an den Augenwinkel. Beide um die es ging, sagten ihr immer wieder, wie schön ihr Lachen wäre. Nah des schmucklosen Ohres flüsterte der Fürst. „Die Farbe deiner Freude ist noch nie angerührt worden, weil man solch Blütenweiß nie fand.“ Keine Süffisanz, kein Annähern. Ein unbefangener Versuch ihr Gemüt zu erhellen war es nur, der die Wirkung nicht verfehlte. Ein kleiner Druck auf die gut bemuskelte Schulter des Schwertarmes vermittelte die freundschaftliche Nähe, bevor der Fürst nach zwei Schritten wieder in seinen Thron fiel, ohne die Weinpfütze im Glas überschwappen zu lassen. Die Frau auf der Stufe fing sich, nahm nichts davon als seine wahre eigene Meinung ernst und ließ sich doch in höhere Stimmungssphären entführen. Seine Absicht war eine Gute. „Bitte, lass das nie jemanden zu mir sagen, so schön es auf einer Buchseite zu lesen wäre. Sag mir, dass das keine Frau je wirklich so hören wollte.“ Ihre heitere Verständnislosigkeit wurde mit einem Schulterzucken abgefangen. „Doch. Manche haben es jedoch auch viel direkter ganz gern gehabt,“ musste sie viel zu trocken von ihm ausgesprochen hinnehmen.


Fortsetzung folgt...

Kommentare 4

  • Das liest sich so schön unaufgeregt, da kann man sich in die Atmosphäre reinfühlen die zum Teil auch unterbewusst durch deine sonnigen Bilder entstanden ist, ohne dass ich denen je im RP begegnet bin. Gale ist cool und ich mag wie Alejandros Lebenserfahrungsmetaphern sich scheinbar auf Fischschuppen, Unkraut und Lyrik beschränken. Und das mit dem Kitschroman-cover.
    Ich bin mal an einer Insel namens Terceira vorbeigeflogen. :o

    • Danke, und "Ich bin mal an einer Insel namens Terceira vorbeigeflogen" könnte auch eine Metapher von Alejandro sein. *hust* Freut mich, wenn es auch so funktioniert hat, auch wenn die Beteiligten und Bekannten wohl mehr von dem kleinen Spiel mit mir selbst haben. :3

  • Ich danke dir für den Einblick in dieses Gespräch, war ich doch unheimlich neugierig darauf und bin es auch, wie es weitergeht. <3