Aufbruch


Aufbruch



Das Schluchzen gellte durch die Halle. Laut und verzweifelt war es, während er sich auf den Stufen schüttelte. Vor einigen Momenten hatte er sie noch geküsst, und nun war sie verschwunden. Tränen rannten ihm über das Gesicht. Er konzentrierte sich auf jene Bilder die sie ihm im Geiste noch einmal wacher gerufen hatte. Zwar waren sie nie verschwunden, zeigten ihm Tag täglich wie er und Minna sich kennen lernten, wie sie ihm das Geständnis gemacht hatte und wie sie ihn auf die Dächer gezogen hatte, wie sie gemeinsam Zeit verbracht hatten und vieles mehr, doch nun waren sie wieder aufgefrischt, als wären sie gestern gewesen, bissen sich noch tiefer in seine Brust und ließen ihn sich für seine eigenen Taten hassen. Er schluchzte weiter, blieb liegen bis er sich irgendwann nicht mehr schüttelte, bis er sich irgendwann aufraffte und ihren Ring, den er noch besaß wieder fest mit den Fingern umschloss. Seinen musste sie an sich genommen haben, er konnte ihn nicht mehr finden.


Langsam drückte er sich nach oben, setzte wie benommen einen Schritt vor den anderen, und schloss wie in Trance den Mantel, dann wandte er sich der Tür zu und verließ Turpin House ein letztes Mal. Schnelle Schritte führten ihn zum Haus von Marlene. Leise klopfte er um sie nicht auf den Plan zu rufen. Stattdessen öffnete ihm Leni die Tür. Ihr Blick war irritiert als sie die roten Augen des Fischers bemerkte und dieser ihr nur den Brief hinhielt. „Gebt dies bitte ihrer Ladyschaft.“ Und noch bevor sie eine Frage stellen konnte, war er über die wenigen Stufen zurück zur Straße gegangen und in Richtung des Stadttores unterwegs. Er lief eine halbe Stunde durch den Außenring. Scheinbar ziellos war seine Bahn, die mal hier hin, mal dorthin führte, bis er das Tor und den Mietstall erreichte.


Wenig später verließ er Götterfels. Wohin war nicht wichtig. Die Nachtluft schlug ihm kalt ins Gesicht und schickte sich damit an, sein Äußeres dem aufgewühlten Inneren anzugleichen. Das Pferd wurde in schnellem Trab angetrieben. Er ließ Fels hinter sich und auch Shaemoore, wie die letzten Laternen des Dorfes. Flucht. Erneut. Was war sein Versprechen nun noch wert? Die Last seines Verrats – in Form ihres Rings – lag ihm schwer auf seiner Brust.


Er verlangsamte sein Pferd nicht einmal als er es durch die Feste trieb, und dahinter hinaus in die Hügel und hinab zum Handelsposten. Auch diesen durchquerte er. Er war diesen Weg schon so oft geritten, doch nie zuvor war er ihm so kalt, und so einsam vorgekommen wie in dieser Nacht. Inzwischen waren die Tränen versiegt, keine mehr waren noch übrig die er hätte vergießen können während die Nachtluft immer wieder nach seinem Gesicht peitschte. Er schien ewig zu reiten und während er weiter ritt und Götterfels kleiner wurde, wurde ihm nicht leichter zu Mute. Im Gegenteil. Er hatte sie ziehen lassen. Schon wieder, doch hin zu ihrer Familie und der Hoffnung auf ihr Glück und die Heilung ihrer Wunden, der äußeren und inneren. Jener Heilung zu der er nicht im Stande gewesen war.


Als er den Wald erreichte – eine gefühlte Ewigkeit nach dem Aufbruch in Götterfels – zog er die Zügel an und ließ sich durchgefroren vom Pferd fallen. Er sah sich weder wachsam um noch lauschte er auf die Geräusche der Nacht. Der Blick richtete sich geradewegs in den schwarzen Forst. Die Gegend konnte Einem Angst einjagen. Die Augen des Fischers schlossen sich während er sich anderes ausmalte.


Ein kleines Häuschen in der Nähe des Flusses. Nicht zu vergleichen mit Turpin House. Stattdessen ein zu Hause. Er ging vor seinem inneren Auge darauf zu. Der Duft von frischem Backwerk stieg ihm in die Nase, das Geräusch von lachen stieß an seine Ohren und die Sonne seiner Gedanken wärmte ihn. Und mit jener wärme die kurz aufflackern konnte - lange genug um die vielen Erinnerungen wieder zu sehen, welche ihn heute Abend auf einmal und konzentriert durchdrungen hatten - schlich sich eine Kälte in ihn, schwer wie Blei und dick wie Sirup. Sie dämpfte alles um ihn herum und ließ die Geräusche des nächtlichen Waldes dumpf werden, als hätte es zu schneien begonnen und die Landschaft läge unter einer Schicht Schnee.


Als er die Augen öffnete und in die Tasche griff um ihren Ring hervorzuholen, sank er langsam auf die Knie. „Hier hätte es sein können“ raunte er mit sanften Worten und strich über den Ring bevor er ihn zurück in die Brusttasche steckte und seine Finger begannen sich ins Erdreich zu schlagen. Halt suchend sank er dort für einige Atemzüge zusammen, während er erneut zu schluchzen begann. Eine Zeit lang - er war unfähig zu sagen ob es 5 Minuten waren oder 15 - kniete er noch an diesem Ort, ehe er sich zurück auf die Beine drückte und zum Pferd ging. Er griff in die Zügel und sah sich kurz um. Welchen Weg sollte er nehmen? Es war einerlei, einer war so gut wie der andere. Er traf seine Entscheidung und ging los, zog ins Dunkel der Nacht.

Kommentare 6

  • Sehr gut geschrieben. Man ist sehr nah an all den Emotionen dran, die der Charakter durchläuft. Die Musik dazu gab dem Ganzen tatsächlich noch mal mehr Tiefe, obwohl ich persönlich sie nicht gebraucht hätte, um mich beim Lesen >nahe< zu fühlen. Das gebrochene Wappen scheint bei diesem Text für vieles zu stehen und regt in dem Zusammenhang zum Nachdenken an, gerade auch, wenn man noch andere Kapitel/Gegenstücke von Beteiligten gelesen hat. Hat mir sehr gefallen.

    • Danke schön für dein Lob. Ja, vieles ist hier "aufgebrochen". Mal schauen was die Zukunft bringt.

  • Wie das Wappen 'aufgebrochen' ist, clever. :p


    Aber was kann denn das Pferd für alles? ,:0

  • Aber sie ist verdammt gut geschrieben.

  • Ich kann diese Geschichte nicht leiden. Nicht weil du es schlecht geschrieben hast, sondern weil mich der Inhalt aufwühlt...