Leben heißt nicht einsam sein

Seine rechte Gesichtshälfte war taub, als er aufwachte. Taub vor Kälte.
Der kindliche Körper ließ sich nur sehr langsam bewegen. Die steifen Muskeln reagierten träge und verspätet, als Misha die Hände unter sich durch den Schnee zog um sich aufzustützen. Es war kalt. Der grelle Schnee unter ihm, der durch das fleckige Sonnenlicht, welches seinen Weg durch die Baumwipfel fand, angestrahlt wurde, tat ihm in den Augen weh, sodass er sie nochmal zukniff und sich dabei langsam auf den Unterschenkeln sitzend aufrichtete.
Seine linke Schläfe pochte. Und die dunklen Flecken im Schnee verrieten ihn, dass er verwundet sein musste. Doch er spürte außer dem Trommeln in der linken Schläfe keinen Schmerz. Nicht mal Angst oder Panik verspürte das Nornkind, wie es mitten in einem verschneiten, einsamen Wald irgendwo in den Zittergipfeln saß.
Misha stand auf und seine klaren blauen Augen erfassten die Umgebung. Seine verschrammten Arme griffen zu seinen Schultern und zogen den alt wirkenden Umhang enger zusammen. Seine Hose war an den Knien aufgeschürft. Sein Leinenoberteil war ihm zu groß. Er erinnerte sich nicht mehr, woher diese Klamotten kamen. Warum sie kaputt waren.
Der schimmernde Schnee knirschte unter seinen Stiefeln, als er sich zum leise rauschenden Bach aufmachte, der ein paar Schritte weiter sich durch den Wald schlängelte. Er hatte Durst.
Misha musste sich nicht überwinden, als er seine bloßen Hände in das eiskalte Wasser tauchte, um das geschöpfte Nass dann zu seinen Lippen zu führen. Er mochte diese Kälte schon immer. Lebendige Kälte. Ein kalter Luftzug im Gesicht. Eisiges Wasser auf der Haut. Schnee in den Händen.


Als er erneut Wasser in seinen zusammengelegten Händen sammelte, blitzte vor ihm kurzweilig sein Spiegelbild im gesammelten Flusswasser auf. Das Gesicht eines Jungen von vielleicht 9 oder 10 Jahren. Kurze braune Haare und klare blaue Augen. Verkrustetes Blut am Kinn, sowie an seiner linken Schläfe. Ihm wurde plötzlich klar, dass er nicht wusste, woher diese Wunden kamen. Warum er in diesem Wald war, der ihm seltsamerweise nicht vertraut vorkam.
Der zweite Schluck des Eiswassers fand seinen Weg in seine Kehle und er schaute über den kleinen Fluss ans andere Ufer. Der morgendliche Wald war still. Einsam. Doch nicht für Misha.
Er schaute zu den Baumwipfeln und er wusste, wenn er sich darauf konzentrierte, würde er die Käfer im Geäst zählen können. Er könnte das Kaninchen hinter der Lichtung in seinem Erdbau spüren.
Die schlafende Eule in ihrem Versteck im Baumstamm. Er spürte das Leben. Der Junge wusste, dass er nie allein war. An einem Ort voller Leben, würde er nie einsam sein.


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