Sonne und Wind

Sonne und Wind


Als sie durch das Portal getreten war, zog sie automatisch den Mantel enger. Es war hier noch immer wärmer als der Götterstadt, doch der Wind blies deutlicher. Wie zugig es hier sein konnte, hatte sie beinahe vergessen. Wie sehr es sich nach dem Angriff verändert hatte, auch. Heute einmal nahm sie sich die Zeit, all die Neuerungen zu betrachten. Die sauberen, weiß getünchten Hausfassaden, die intakten Brücken, das Handelsviertel und die ganzen Prachtbauten.
Es grenzte an ein kleines Wunder, dass ihr eigenes Haus all das beinahe unbeschadet überstanden hatte. Sicher, sie sah die neuen Ziegel, den besseren Anstrich und die Fensterrahmen, aber es duckte sich noch immer zwischen zwei größere Häuser in einer Seitengasse, die vom Markt fortführte, noch immer hatte es denselben Grundriss und noch immer quietschte das Törchen des kleinen Vorgartens, als sie es öffnete. Den Anflug von warmer Wehmut, der sie dabei überkam, schüttelte sie heute einmal nicht ab, sondern hieß ihn ebenso willkommen, wie all die anderen Erinnerungen, die nach und nach auf sie einströmten, hier, an dem Ort, wo es begann.
Es war noch bewohnt, so viel konnte sie sagen. Die Blumen in den Fenstern sprachen eine eigene Sprache, erzählten von der Wohnlichkeit der hier lebenden Menschen und auch von einer gewissen weiblichen Hand, die hier alles in Ordnung zu halten schien. Keine Kinder. Es gab nichts, das auf welche hingewiesen hätte und sie glaubte, einen Blick für solche Details zu besitzen.
Ihre Finger berührten den Türknauf. Auch er war neu, aus Messing nun und poliert von den Händen, die ihn tagtäglich nutzten. Es wäre leicht gewesen, sich Einlass zu verschaffen, ihren Fähigkeiten hätte das einfache Schloss nicht lange stand gehalten und keiner der vorbeigehenden Menschen nahm groß Notiz von der jungen Frau vor der Tür dieses unscheinbaren Hauses.
Nur er tat das. Als Schritte hinter ihr zum Stehen kamen, wusste sie, was sie sehen würde, wenn sie sich umdrehte. Er würde auch so sein, wie früher, ein klein wenig älter geworden vielleicht. Eine Reife, die man ihm an den Augen ansehen würde. Vielleicht hatte er an Fältchen dazu gewonnen. Ein feines Netz davon hatte immer seine Augen umspannt, wenn er lachte. Das Haar könnte bleicher geworden sein, entfärbt von Sonne und Wind, die Haut dafür dunkler und seine Miene wäre eine ernste. Von der Wut, die sie zuletzt darin gesehen hatte vor all den Jahren wäre nichts mehr geblieben. Das hoffte sie.
„Mirja.“, sagte er.

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