Eine Winternachtsmäre VI – Fast ein ganzes Jahr

„Als wäre ich ein Spukgespenst,“ sagte sie. Die Lippen kräuselten sich zum verschmitzten Kommentar, ehe sie die Hand vor ein Lächeln mit zwei Zahnlücken hob und leise lachte. Das Kaminfeuer knisterte wie einst im gruseligen Kuriositätenkabinett in der großen Hauptstadt der Menschen und gleich dieser war das Holz aufgeschichtet und brannte im eifrigen Feuer um das Dunkel zu erhellen, das sich von hinten an die beiden Sessel schlich. Goldene Ornamente mit hunderten, kleinsten Falken im stilisiertem Geäst rahmten roten Brokat mit floralem Muster. In ihrem Augenwinkel schwappte der Branntwein im bauchigen Glas zwischen den schmucklosen Fingergliedern einer Männerhand, während die junge Frau in die Flammen sah und sprach, „aber du bist nicht nur wegen mir zu einem Priester gegangen, nicht wahr?“ Sie selbst trank nie Branntwein, wenn sie die Wahl hatte und diese fiel ihr fast immer in den Schoß. Heute jedoch, da tat sie ihm den Gefallen. Die Reflexionen des lebendigen Lichtes spielten ein Stück von funkelnden Goldsternen hinter einer Scheibe, das es hielt. Er, der sie vor einem Jahr gefangen nahm, aufnahm, annahm und bei sich behielt. Nun wurde es wieder kühler im Wandel des Jahres, auch am anderen Ende der Welt, wo gigantische Schwingen nicht nur einen Festplatz, sondern die Leben vieler hüteten. Das Falkenjunge auf dem göttlichen Felsen war für manch einen eben doch nur ein hilfloses und heuchlerisches Küken aus Glas. „Ich ging nicht im Ansatz wegen dir dort hin, auch wenn ich davon sprach. Du bist wie jeder einzelne belanglos und unbedeutend für das Geschehen, das du nicht berühren kannst. Nicht ein mal eine Königin reicht weiter als ihr Wort am ersten Ohr. Vom nächsten Mund zum Nächsten fehlt die wahre Stimme bereits, nach vielen weiteren der Sinn und nach noch mehr Echo könnte sie es selbst nicht mehr erkennen. Ebenso bin ich. Ebenso jeder und jede, die nicht namentlich, sondern nur als Schemen im Dialog erwähnt wurde. Ich war dort, weil ich etwas in mir erkennen musste und wider der vielen enttäuschenden Eindrücke in Götterfels erhielt ich Antworten, die ich selbst überhört hatte. Dabei hatte ich meinem Innersten einfach nicht richtig zugehört." Der Branntwein ergoss sich in einem ungewohnt großen Schluck vor ihren Augen in seinen Mund und brannte zum Glück noch immer wie eine nie verglühende Liebe nach zahllosen Jahren, in denen man stets zu befürchten hatte, dass alles zu früh endet. Fionas Lachen war verstummt, ließ ein Lächeln über, das von innen heraus strahlte und die Augen über Sommersprossenwangen machten es zum ehrlichsten Ausdruck, den ein Mensch zu leisten vermag. Sie grämte ihm nicht, weil er sie so unbedeutend darstellte, weil sie wusste, wie er es meinte. Sie kannte ihn mittlerweile als eine von zwei Angestellten. Stille kehrte ein und ergriff den Mann, als auch das Mädchen, das die Beine angezogen umarmt hielt und zum verträumten Kind werden durfte, wenn sie mit ihm sprach.


Der Entführer und Retter stellte das Glas zwischen seinen Fingern gehalten auf der Lehne ab, griff nach dem Ende der Ornamente auf der anderen Seite und schloss die Augen. Das Feuer schien auf die Fingerknöchel, die wegen den Kratzern und Narben ganz und gar nicht von Adel waren. Es wärmte Körper und Geist im Einklang mit dem flüssigen Gold. "Fast ein ganzes Jahr," stellte sie nach einer Weile fest. Weder Fiona, noch der, der ihr Obdach, Arbeit und Heilung bot, ertrug das zwischenzeitliche Schweigen. Es stand nur im Raum wie jenes sinnbildliche Schreckgespenst, das sie überhaupt nicht war, weil der Abschied nahte und an vielen vergangenen Abenden schon alles erzählt worden war. Sie kannten sich gerade besser seit der Rückkehr ins Leben einer jungen Frau, als andere es überhaupt lernen durften, weil das Begreifen einer Person auch ein Ergebnis von Zeit und Gewohnheit war. Der größte Feind wusste mehr über den Helden, wenn er ihn nur lange genug beobachten durfte und sie hier waren Freunde geworden. "Rühr mich nicht," gab er ihr auf, ehe ein Mundwinkel zuckte. "Das geht doch gar nicht," entgegnete die Rothaarige und betrachtete sein Profil vor dem Ohr des Sessels im Funkenglanz des heimischen Kamins. Die ausdruckslose Miene war lesbar, wenn man die Sprache erst ein mal begriffen hatte, in der sie sich ausdrückte. "Du hast einen Platz eingenommen, der immer leer war, Fiona," erklärte Dante unvermittelt. "Dafür habe ich dir zu danken." Sie öffnete die Lippen einen kleinen Spalt weit und blinzelte ihr fehlendes Verständnis für die plötzliche Offenbarung in verbaler Form fort. Sie verstand ihn, aber erwartete so etwas nicht. Der Graf fuhr fort. "Es ist das beste zu sprechen, wenn ein Ende naht und ich habe auf guten Rat hin beschlossen, dich nicht in die Endlichkeit ziehen zu lassen. Ich habe keine leiblichen Nachkommen, aber du bist eine Tochter geworden, die dieses Haus mit ihrem Lebensmut erfüllt hat." Dante zog die Brauen zusammen und Fiona hielt für Herzschläge den Atem an. Es rührte sie so sehr, wie sie gleichsam noch nicht verstand, was er damit sagen wollte. In Mitten dieses Hauses voller leerer Gänge und Zimmer, die seit Jahren nur ein Angestellter mit dem Staubwedel betreten hatte, fuhr er mit besonderen, offenen Worten fort. "Schreib mir hin und wieder, ohne dort, wo du bist auf eine Antwort warten zu müssen, bevor du weiter ziehst. Wisse, dass dies hier immer dein Rückzug sein wird, so lange ich selbst hier lebe und vergiss nicht, dass ich dich nie aufgegeben habe und nicht aufgeben werde. Die Welt ist weit, aber nie unerreichbar. Wir sehen uns wieder. Wer weiß schon wo und wann, aber ich möchte den Gedanken nicht aufgeben und bitte dich, dies auch nicht zu tun. Dann kannst du mir von allem Erzählen. Es schmerzt zu glauben, dass ich dich mit gut gemeinten Worten vielleicht dazu gezwungen hätte, wie ein Schatten an mir vorbei zu schleichen, so du mich streifst. Sei weiterhin meine Familie, auch wenn ich dir von Herzen wünsche Tyria zu begreifen, bitte."


Fiona fühlte Tränen der Rührung aufsteigen und wurde nur von der Verwunderung im Sessel gehalten. Fesseln, die sie erst abstreifen musste, weil sie so etwas aus seinen Lippen bisher nicht kannte. Doch ihre eigene Zuneigung zum väterlichen Fürsorger gewann gegen das lose Seilwerk der ungewohnten Gedanken und bare Füße traten auf das gewärmte Parkett um mit zwei Schritten zu ihm zu eilen. Die schwere Last des Glases wurde sie auf dem Weg los, als sie es einfach auf dem Boden abstellte. Die junge Frau fiel Dante um den Hals und dank des Sessels in ihrem praktischen Alltagskleid aus einfachen, mehren Lagen Stoff auf den Schoß, weil der Mann mit so einer Geste weder rechnete, noch direkt umgehen konnte. Sie wurde wieder zum Mädchen, das vor Jahren die Familie verließ. Damals, als sie zum ersten Mal wirklich liebte, bevor sie den Tod begreifen musste. Als sie noch unschuldig war, eine ordentliche Frau werden wollte, die ihre Familie nicht enttäuschen musste und die armen Bauern versorgen konnte. Damals, als sie noch niemanden sterben sah, den sie nicht kannte und ehe sie die Schattenseiten allen Seins im jungen Leben aufgebürdet bekam. Früher, als der Samen von rotem Mohn sie noch nicht in die Knie zwang, damit ein Fremder sie im Rinnstein aufheben und behüten konnte. Musste. Dante stellte den Branntwein auf den Beistelltisch und legte die Arme behutsam um die Schultern seiner unverhofften Ziehtochter, die seinen Bart an ihrer noch immer ein wenig bleichen Wange spürte. Salzwasser rann dort zwischen die Härchen und ein leiser Dank fiel an sein Ohr. Unverfängliche Nähe, in der niemanden ein missverständliches Gefühl überkam. Eine reine Zuneigung, die ihren Höhepunkt im Abschied fand, den priesterliche Worte mit einem Ratschlag leichter machten. Etwas, auf das Dante nicht kam, weil er es ausschloss sich in ihr weiteres Leben einzumischen, das er mit einfachem Begreifen gerettet hatte. Nie wurde es zur Bedingung für etwas, nie zur Schuld. Nur jetzt, für die Bitte um Briefe und ein paar Worte in ferner Zukunft sprach er aus, was er erwartete. "Ich werde dich vermissen, Fiona," begann er ihr weiter zu offenbaren, "die Welt ist groß, du hast Freud und Leid erlebt, gelitten und geliebt wie kaum jemand in deinen jungen Jahren. Hole nun nach zu sehen und zu entdecken. Erinnere dich daran, was du gelernt hast, als du mit den Wölfen geheult hast. Fall wieder in diesen Fluss und ertrinke nicht. Erinnere dich an die Glühwürmchen und deinen ersten wirklich freien Atemzug. Das Märchen ist nicht zu Ende, nur weil du das Buch geschlossen hast. Öffne es, wo der Daumen sich die Seiten noch immer merkt. Lebe ein zweites Leben. Das erste geht nicht verloren."


Er hatte sich jedes Wort gemerkt, erkannte sie. Ein dankbarer Wangenkuss war alles, was sie noch zu erwidern wusste und während Dante ins Feuer blickte, funkelte gegenüber auch ein kleiner Fluss, gezogen von einer einzigen Zähre, die sich bald schon im Bart verlor. Ein erhabenes Gefühl. In Stunden saß auch er nicht mehr hier. Die Asche wird erkaltet sein und zwischen den Sesseln steht dann nur noch ein einsames Glas Branntwein mit einem letzten Rest darin.


Eine letzte Fortsetzung folgt...

Kommentare 10

  • Jetzt bin ich ein bisschen traurig.
    *seufz*

    • Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich das als Kompliment betrachte! Dennoch danke :3

  • Die letzte Geschichte ist gefühlt echt fast ein ganzes Jahr her. Musste mich noch mal reinlesen. Wo ist der Kater? :0

    • Die Erste ist aber so gut wie ein Jahr her und bestimmt auch den IC Zeitraum der folgenden Geschichten bis eben zu dieser hin. Die ist jetzt und der Kater ist in Götterfels, der wird nicht immer hin und her geschleppt. ;)

  • :) Danke für den Einblick in diese Szene einer langen Geschichte, an der man immer wieder ein wenig Anteil haben darf... und das nicht nur als Leser. Sehr schön geschrieben, eine tolle Atmosphäre und ein in sich rundes, ruhendes Gespräch. :)

    • Dankeschön. Und es ist nicht nur die Anteilnahme, sondern das Ergebnis von vielen Spielen mit verschiedenen Leuten. Zumindest schon ein mal für einen Charakter im Langzeitplot.

  • Ich bin so froh, dass es hier endlich weiter geht und es ist wundervoll ergreifend geschrieben. <3

    • Dankesehr. Es geht weiter, bis es aufhört. ;) Aber noch ein mal kommt was dazu. <3

  • Woa ne ganz neue Seite an dem Kerl.Der lässt Nähe zu? Was hab ich verpasst?
    Ungewohnt intim find ich cool und dann noch Fiona dazu...

    Einer meiner Lieblingschars von Dir...der Dante... <3

    • Tja, du hast noch nicht viel über ihn und seine Motivation erfahren, fürchte ich. Dankeschön. :3