Zu groß

Der Stuhl war ihr zu groß. Nicht nur von seiner protzigen Machart her, sondern auch das Gewicht seiner Bedeutung. Einst hatte Leon auf diesem Platz gesessen. Adrian nach ihm und später Helena. Heute saß sie hier. Nicht weil sie einen Posten für sich beanspruchte, sondern weil sie die Abgeschiedenheit des Raumes zu schätzen gelernt hatte.
Das Büro im iorgaschen Anwesen war trotz Abwesenheit der großen, schillernden Persönlichkeiten noch immer ein Ort der Respekt abverlangte, ganz so als füllten jene, die eigentlich hier her gehörten, ihn weiterhin mit ihrer Präsenz. Das Wirken anderer hatte ihn zu einem Ort der Macht geformt und für Lynn haftete den Wänden, dem Mobiliar und dem Boden noch immer der Geschmack von Blut und Gewalt an. Manches Mal, wenn sie hier saß merkte sie auf und konnte nicht anders, als sich widerwillig der Ungeheuerlichkeit der Situation bewusst zu werden. Sie schmeckte Spott auf ihrer Zunge und lauschte Gelächter, das nur sie hörte. Der Stuhl war ihr zu groß.
"Danke dir, Vito." sagte sie trotzdem, als hätte sie jedes Recht hier zu sitzen und nickte dem Libanez zu, der ihr einen Stapel Briefe auf den Tisch legte, nach dem sie griff um mit einem flüchtigen Blick die Namen der Absender zu registrieren.
Erst als die Bürotür wieder von außen geschlossen worden war, wandte sich die Schwarzhaarige Helena wieder zu. Die graziöse Schönheit saß bei ihr auf der Tischkante, weil es beiden falsch vorgekommen wäre, hätte sie auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz genommen. "Was hälst du davon?" kam Lynn auf das Thema zurück, jetzt, da Vito wieder fort war. "Razvan hat Erfahrung. Und wir müssen den Platz wieder besetzen, wenn es auch nur zeitweilig ist." Falls es zeitweilig war, aber das sprach keine der Beiden aus. Helena überschlug die schlanken Beine anmutig und warf mit einem Rucken des Kopfes die Haare über ihre Schultern, eine Übersprungshandlung, während sie ihre Gedanken sortierte. "Machst du dir Sorgen wegen Levi's War - Nein." unterbrach Lynn sofort. "Natürlich würden sie uns gerne alle wegsperren. Aber ich habe mir Victor's Akte angesehen. Bei den Seraphen findet sich nichts, das zu uns weiterverfolgt werden könnte. Und ich ... für eine zerschmissene Straßenlaterne landet man nicht am Galgen. Die wenigsten von uns sind aktenkundig. Und die, die es sind, die meisten, nicht gravierend genug um den Aufwand von Ermittlungen zu rechtfertigen." Niemand sollte sagen können, sie hätte ihre Hausaufgaben nicht gemacht, seit sie von den Ermittlungen gegen Victor wusste. "Ich würde es ausserdem erfahren, wenn von der Anwaltschaft Informationen angefordert werden würden. Ich glaube auch nicht, dass Victor einen Präzidenzfall schafft, indem er gegen einen von uns aussagt." Ein säuerliches Lächeln huschte über ihre Lippen: "Ich sage es nicht gern, aber er ist immernoch Familie." Helena's Schweigen dazu war beredt genug. "Razvan hat eine Frau und Kinder. Ich sollte mit Nevia sprechen, bevor ich sie alle wieder in den Sog der Geschäfte zerre." Das Rabenhaar nickte bedächtig. "Ja, das sollte ich." fügte sie leiser an, wie eine Erwiderung, und zog einen der Briefe aus dem Stapel, dessen Siegel sie brach um ihn dann zu lesen. "Ich war gestern ungerecht zu ihm. Ich mag Razvan. Sehr. Aber er ist nicht grade der geborene Anführer, oder? Wenn er sagt, er will über das Haus wachen, glaube ich, dass er eigentlich meint aufzupassen, dass wir 'Mädchen' anständig und tugendhaft bleiben. Aber trotzdem war ich ungerecht. Ich sollte auch mit Veruca und Sneshana darüber sprechen. Es hilft nichts Helena... Wir müssen den Platz mit jemandem füllen, der für die Familie sprechen kann. Jemandem der Ernst genommen wird. Auch falls ..." Ein tiefes Durchatmen "...falls Verucas Anwesenheit als Pfand nichtmehr reicht um den brüchigen Frieden mit Löwenstein zu wahren." Sie schauderte unwillkürlich bei der Vorstellung sich selbst gegen Adrian behaupten zu müssen. Helena schwieg. Sie schwieg solange, dass Lynn den Blick vom Papier löste und im nächsten Moment nicht überrascht war die Tischkante leer vorzufinden. Niemand hatte den Raum verlassen, obwohl sie meinte noch immer einen Hauch von Helena's Duftwasser in der Nase zu haben. Und mildes, spöttisches Gelächter im Ohr.
Schweigen.
Die Iorga leerte ihr Glas und warf einen unwilligen Blick auf den Brief, den sie noch immer in den Händen hielt. Dann nickte sie langsam, abermals. Sie würde sich bei Razvan entschuldigen müssen. Und sie würde mit Nevia sprechen. Am Ende würde sie ihre angeheiratete Tante darüber urteilen lassen, ob sie Razvan den Namen dieses Absenders nannte und ihn damit wieder zu einem Aktivposten erklärte, mit der Chance darauf sich zu beweisen, oder ob sie sich selbst um diesen Mann kümmern musste.
Ja, so würde sie es machen. Den Plan gefasst erschien es ihr trotzdem noch einige Minuten lang als zu große Kraftanstrengung aufzustehen und ihn in die Tat umzusetzen. Und als sie es schließlich doch vollbracht hatte strebte sie, ein hohles Gefühl in der Magengegend, eilig danach das Zimmer zu verlassen. Es war nicht nur der Stuhl, wurde es ihr in den wenigen Sekunden bewusst, die sie brauchte, bis sie erleichtert die Tür hinter sich zugezogen hatte. Der ganze Raum war ihr zu groß.

Kommentare 8

  • Ich habe dir ja schon in Skype gesagt, dass ich die Geschichte sehr schön fand. Lynn soll sich außerdem nicht so viel Stress machen, immerhin ist ja "Dad" an ihrer Seite.

  • Danke ihr Lieben für das schöne Feedback <3

  • Erst dachte ich, Helena hat jetzt schwarze Haare. Dann dachte ich, Lynn wird 'schwarzhaarige Helena' genannt. Dann war Helena doch da aber eigentlich auch nicht und Helena war eigentlich auch Lynn.


    Trippy!


    Demnächst im Kino: "Levi's War"

  • Veruca hm... da müssen sie aber zuerst an Grom vorbei :D

  • Ach, Lynn. <3
    Dabei macht sie selbst das so super.

  • Ach Lynni. Man könnte fast ein bisschen Mitleid haben!
    .. aber nur fast. :p

  • Toller Einblick, schön geschrieben ohne Langweilig zu werden. <3