Biergedanken


Ein kaum hörbares Quitschen ertönt, während der Zapfhahn des großen, mit Eisen beschlagenen Bierfasses von der Hand der blonden Jungnorn zur Seite gedreht wird. Zu laut ist es in dem Wirtshaus von Rekkins Rast. Der große Raum wird von Gelächter und Gebrülle der feiernden Norn erfüllt. Torel Ragnisson erklimmt hinter Astrid gerade einen der belandenen Tische, um eine Prahlerei von sich zu geben, die es in sich hat. Er wird wieder über Heldentaten berichten. Von Wölfen, die er gejagt hat. Von Svanir, die er verprügelt hat. Von Weibern, die er geschwängert hat. Am Tisch daneben knallen die drei Norn, deren Namen Astrid noch nicht kennt, zum dreizehnten Mal ihre leeren Krüge auf das Holz des stabilen Tisches und fordern lauthals nach frischem Nornbier.
Ein solches Bier will Astrid gerade zapfen. Die ersten Tropfen des Gesterngetränks dringen aus der weiten Öffnung des Zapfhahns und fallen herab in die Untiefen des großen, nornischen Kruges. Mit dem ersten Tropfen fällt auch der grasgrüne Blick Astrids herab in den leeren Humpen. Als würde sie selbst in die Leere des Kruges eintauchen, driften ihre Gedanken ab. Weitere Tropfen des kühlen Durstlöschers bedecken den Krugboden.


Seit Tagen, seit Wochen, seit Monaten ist sie mittlerweile hier. Hier, bei Juno und Hilda und den anderen, die sich zum Rastrudel zählen und es sich zur Aufgabe gemacht haben Rekkins Rast in Stand zu halten, Reisende zu versorgen, Essen zu kochen, das Feuer am brennen zu halten. All das tut sie nach bestem Wissen und Gewissen. Es macht ihr nichts aus, denn es ist eine ehrenvolle Aufgabe, Teil des Rastrudels - Teil der Rast - zu sein. Sie hat Spaß daran, immer neue Gesichter zu sehen und so zwangsweise auch immer bekannter zu werden. Die junge Blonde bleibt den meisten in Erinnerung.
Bevor sie Juno, die schneeweiße Sylvari, kennengelernt hat, war sie auf Wanderschaft. Immer unterwegs in der Kälte der Zittergipfel. Bis hinauf zu den Bitterfrostlanden. Dort, wo selbst Norn erfrieren, so erzählte ihr Pa es ihr immer. Sie war auf dem Weg in den Süden, vorbei an Hoelbrak, über den Weg, der an der Rast vorbei führt. Dort lies sie sich am Feuer nieder um zu rasten. Die Schneeblume war dort, lud sie auf ein Getränk ein und verwickelte sie in ein langes, intensives Gespräch am wärmenden Lagerfeuer. Bereits am Ende dieses Gespräches stand es fest: Sie würde mit Juno und ihren Freunden, der Gilde Odyssee Cantha auf eine Reise gehen. Ein geheimes Abenteuer, so nannte Juno es.
Während des Abenteuers stellte sie sich an die Seite der Verteidiger der Gruppe. Gemeinsam mit ihnen stand sie in der ersten Reihe, hob ihr Schild schützend vor die Mitstreiter und schwang die Axt in die Reihen der Feinde. Pa war stolz, als er davon erfahren hatte. Sein Mädchen hatte endlich den Weg des Bären eingeschlagen, wie er es sich immer gewünscht hat. Auch Andra, die Kommandantin der Verteidiger, schien gefallen an Astrid gefunden zu haben. Eine Norn, die sogar mit Verstand und Achtsamkeit an eine Aufgabe heran geht. Auch Astrid hat ihren nornischen Dickschädel, allerdings hat sie während des Einsatz auf die Befehle gehört, die gegeben wurden. Nicht, weil sie nicht ihren eigenen Weg gehen wollte. Der eigene Weg wäre nur mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Sackgasse gewesen. Oder der Tod. Also war es besser seinen Sturkopf für die meiste Zeit hinten anzustellen.
Dann brach dieser Traum über sie wie eine Lawine herein. Der Rabe selbst erschien ihr im Traum, zeigte eine Vision auf, die sie zum Handeln zwang. Gemeinsam mit Juno und der Schamanin Fraja machte sie sich auf den Weg zum Schrein des Raben in der Schneekuhlenhöhe. Zusammen verhinderten sie die Entweihung des Schreins, streckten einen Svanir nieder und sicherten den Toten den Weg in die Nebel. Seit dem hat sie viel Zeit mit Fraja verbracht. Sie interessiert sich für die Lehren des Raben und die Herstellung von Salben.
Seit dem hat sie sich verändert. Sie ist ruhiger geworden. Ma sagte, Astrid sei bodenständig geworden. Sie würde nicht mehr herumrennen und die Welt erkunden wollen, wie die Schneeleopardin selbst. Pa war fest davon überzeugt, dass ihr einfach ein Kerl fehlt. Und Welpen. Mindestens sechs. Ihre Eltern hatten ihr immer gesagt, sie sollte etwas vernüftiges tun. Was war schon vernünftig? Für die beiden war es auf jeden Fall nicht vernüftig, wenn man sich alleine durch die Wildnis schlägt und sich Gefahren aussetzt, ohne etwas für die Norn zu tun.
Sie hätte Schneiderin, Schmiedin oder Händlerin werden können. Ma und Pa würde es freuen. Sie hätte sich der Gilde anschließen, die Welt bereisen und Cantha suchen können. Andra würde es freuen. Sie kann bei der Rast bleiben, sich um Reisende kümmern und tun, was eben ansteht. Juno würde es freuen. Hilda würde es freuen. Sie kann weiterhin bei Fraja sein, gemeinsam den Weg des Raben beschreiten. Vielleicht wird sie dann irgendwann selbst Schamanin sein. Fraja würde es freuen. Ihre Eltern würden es verstehen, wenn sie kein Handwerk lernen wird. Andra würde es verstehen, wenn sie nicht nach Cantha reisen wird. Juno und Hilda würden es verstehen, wenn sie nicht bei der Rast bleiben wird. Fraja würde es verstehen, wenn sie nicht den Weg des Schamanismus gehen wird.
Aber was war es, das Astrid freut? Was will sie tun? Welchen Weg will sie gehen? Kann sie es allen recht machen? Kann sie ihre Eltern glücklich machen, Juno und Hilda weiterhin unterstützen, Andra zur Seite stehen und mit Fraja lernen? Will sie das alles überhaupt? Kann eine einzelne Norn das alles stemmen, oder wird sie sich früher oder später von Teilen ihres Lebens trennen müssen? Wen wird sie enttäuschen? Wer wird zurückgelassen?


Auf dem gezapften Bier hat sich eine prächtige Schaumkrone gebildet. Sie steht über den Rand des Kruges hinaus und hat eine anständige Festigkeit. Mit Sicherheit wird dem Norn, der das Bier ansetzt, dieser Schaum im Bart hängen bleiben. Aber genau wie die Gedanken der Jungnorn, wird auch der Schaum von der Pranke des Norn weggewischt werden und nach wenigen Augenblicken ist nichts mehr davon übrig. Bier zapfen. Das kann sie auf jeden Fall wie keine Zweite. Selbst Hilda lässt Astrid mittlerweile lieber an die Fässer, bevor sie selbst zapft. Erneut bewegt sich der Zapfhahn unter nicht hörbarem Quietschen. Der stetige Fluss an prickelndem Nornbier erlischt. Wenige Tropfen laufen nach und fallen den weiten Weg zum Boden. Der gefüllte Krug ist bereits auf dem Weg zum nächsten, durstigen Norn, der sich nur zu gerne von dem jungen Blondchen bedienen lässt.

Kommentare 6

  • Liest sich wunderbar! Schöner Aufbau tolle Formulierungen, fühlt sich alles stimmig an. Es wirkt, hm - professionell! Wie aus einem Buch. Wenn ich schreibe, liest es sich irgendwie nicht wie ein Buch.
    Ich bin auch begeistert darüber, wie lebendig du ein Norn-leben werden lässt. Ich selbst habe keinen Norn, keine Ahnung davon komme auch irgendwie nie in Kontakt damit. Für mich hat die Geschichte also ein schönes Bild von Situationen und Personen die ich nicht kenne geschaffen, das ich mir sehr gut vorstellen kann.

  • Sehr gerne gelesen und ein schöner, nicht zu viel sagender Einblick in den Kopf des noch recht unbekannten Blondschopfes. Gerne mehr davon!

  • Ouh, eine Astrid-Geschichte. :)


    Was ich mich einfach frage ist: Wenn Astrid schon so viel zu bedenken hat, wenn sie nur Bier zapft. Was muss sie dann erst alles bedenken, wenn sie nachdenkt. :o


    In jedem Fall schön zu lesen! Und es wird wohl spannend sein, für welchen Weg sie sich wohl entscheiden mag, oder ob sie gar wirklich alles gestemmt bekommt. :)

  • Wundervoll!
    Das Gedankenwirrwar der Jungnorn wurde schön in Szene gesetzt. Man konnte nicht zu viel deuten, aber auch nicht zu wenig. Es war meines erachtens perfekt darauf abgestimmt. Wie ein Tagebuch, welches sich nur in ihren Gedanken wieder findet.
    Gefällt mir sehr sehr gut. Ich fühle mich bei der Art selbst ein wenig an die Arbeit erinnert. Habe ich Momente für mich, gehen mir auch Gedanken durch den Kopf, und manchmal sehr sehr viele!


    AUf jeden Fall ... bitte mehr davon! :D

  • Ich mag die Geschichte. Ich mag sie sehr. Als Astrid beginnt aufzuzählen, mit wem sie alles etwas unternimmt, was sie vorher gemacht hat und was die Wünsche der Eltern sind, musste ich bereits vorfreudig-gerührt schmunzeln. Ich ahnte, dass diese eine Frage sich in den Vordergrund drängt und ich fand es toll, weil es wie aus dem echten Leben gegriffen ist. Den ganzen Abend über feiert man und auf einmal hat man ein paar Sekunden Ruhe und denkt in denen soviel mehr als sonst und stellt sich solche Fragen. Es reisst mit und inspiriert, sich solche Gegenüberstellungen zu machen.

    • Das ging aber wirklich schnell.
      Vielen Dank für deine netten Worte.
      Es freut mich sehr, dass die kleine Geschichte gut ankommt.
      Das macht Mut, noch mehr zu schreiben!