Warum ich fort ging



Nur einmal im Jahr ist das Anwesen so belebt wie in diesen drei Wochen. Die Zeit der Vorbereitung, die Tage der Geselligkeit und die gemeinsamen Stunden des Weihnachtsabends. Schon immer nahm meine Familie dieses Fest als Anlass, unsere gesamte Verwandtschaft und enge Freunde einzuladen. Selbst mein griesgrämiger Großvater Merlin, der Schandfleck im Stammbaum der Familie, ist für die Dauer dieser Festtage willkommen.
Ich bin noch immer unschlüssig darüber, ob ich an diesem regen Treiben, den vielen Menschen und den Veränderungen der häuslichen Einrichtung Gefallen finde. Zum Einen stört mich dieser Lärm und das Ungewohnte, zum Anderen bin ich nicht in der Lage, mich einfach in der Vorfreude und Feierlichkeit treiben zu lassen, so wie meine jüngeren Geschwister. Aber es gefällt mir, wie der Einzelne - ich um genau zu sein - in der allgemeinen Aufregung untergeht. Kaum einer richtet sein Blick auf mich, diesen Jungen, der sich so sehr bemüht nicht gesehen, nicht gehört zu werden.


Kein Wunder also, dass sie mich nicht bemerkt hatte. Es geschah in den Tagen nach der Anreise der meisten Verwandten, diese Begebenheit, die mir auch jetzt, Monate danach, noch immer keine Ruhe lässt.
Meine Mutter hatte mich davon überzeugt, die Bücher liegen zu lassen, „Wenigstens bis Neujahr“ hatte sie mir ans Herz gelegt. Vielleicht war ich auch dankbar darüber, meinen Verstand ruhen zu lassen und pflichtlos das Geschehen zu betrachten, den politischen Gesprächen der Erwachsenen zu lauschen und den Glühwein zu genießen. Ich verlor mich in Gedanken, da ich nichts zu tun hatte, und keinem Ziel folgte, an dessen Ende man mich erwarten könnte.
Ich weiß nicht mehr, warum mich meine Schritte hinunter in Richtung Küche geführt hatten. Hunger kann es nicht gewesen sein, denn wir hatten gerade gespeist und die meisten Gäste befanden sich noch im Speisesaal, unterhielten sich miteinander oder lauschten den verführerischen Klängen der Harfenistin, die an diesem Abend eingeladen war.
Ich gehörte nicht dorthin, in den Keller des Anwesens und ich frage mich bis heute, wie ich von keinem der Diener gesehen werden konnte.



Und dann stand sie dort, vor mir auf dem Abgang der Treppe. Marianne, die junge, schöne Bedienstete, auf deren Armen sich Stapel von Geschirr auftürmten. Mir den Rücken zugekehrt hatte sie angehalten, um verrutschtes Besteck zu richten, es könne ihr doch auf dem Weg in das tiefer liegende Stockwerk entgleiten. Es schien eine Ewigkeit zu verstreichen, in der ich dort stand, schweigend und unbemerkt und die Bedienstete beobachtete.
Doch es waren nur Sekunden.


Die Stufen vor der Großküche sind breit, doch nicht links, nicht rechts war sie stehen geblieben, sondern in der Mitte dieser breiten Stufe. Wie ein einsamer, schwankender Baum in der Wüste, schien sie mir.


Sie hatte mich nicht kommen hören. Das wusste ich. Zu konzentriert war sie darauf das Gleichgewicht zu bewahren, ich sah es ihr an.


Marianne war nicht immer so still gewesen wie in den vergangenen Monaten. Diejenigen, die für das Privatleben einer einfachen Dienerin ein Auge hatten, gingen davon aus, dass sie von der harten Arbeit erschöpft sei. Ich aber kannte den wahren Grund. Ihr Bruder war zurückgekehrt, doch sie konnte sich darüber nicht freuen. Er ist erfüllt von innerer Unruhe schlägt die Unschuldige aus reinem Verdruss. Ich habe sie beobachtet. Oft habe ich darüber nachgedacht, wie ich ihr aus ihrer misslichen Lage helfen könnte, einmal habe ich sie darauf angesprochen, aber sie hatte keine Hilfe gewollt. Sie tut mir leid. Ich weiß, wie es ist, allein mit seinen Gedanken zu sein.


Auch heute sah sie so schwach aus, so zerbrechlich. So ahnungslos so schutzbedürftig, mitten auf der obersten Stufe. Und doch wog sie sich in Sicherheit, da sie davon ausging, allein zu sein.


War die Zeit stehen geblieben?
Befand ich mich noch immer dort, hinter ihr, oben an der Treppe?
Da war es wieder, dieses seltsame Gefühl. War es bereits erschienen, als ich den Gang zur Großküche eingeschlagen hatte? Hatte es unbemerkt meine Schritte hierher geführt, auf der Suche nach Befriedigung?
In diesem Moment wusste ich, warum ich stehen geblieben war, warum ich ihr noch immer schweigend in den Rücken starrte. Aber dieses Bewusstwerden spielte keine Rolle mehr. Kein Gedanke schien noch von Bedeutung.
Es war, als würde ich den Bezug zur Realität verlieren, den Boden unter meinen ruhelosen Füßen. - Und doch war so präsent wie in keinem anderen Augenblick, so zielfixiert und voller Potential, wie ein Pfeil in der Sehne seines Bogens.
Würde ich es wagen, loslassen?


Denn da war sie wieder, diese Gier. Dieser Trieb in jeder Faser meines Körpers, dieses Sehnen, nach etwas das ich zutiefst verabscheue. Dabei hatte er sich lange nicht mehr gezeigt, dieser Schatten. Ich hatte gehofft, dass ich ihn vernichtet hätte, erstickt im Keim von schlechten Gedanken.


Er war nie fort gewesen.


Ihr Schrei war es, der mich zurück in geistige Präsenz zerrte. Von einem Moment auf den Anderen war mein Verstand zurück. Die Illusion zersprungen und ich sah es. Ich sah, wie sie stürzte. Ich sah meinen Fuß, dort in der Luft wo sie gerade noch gestanden hatte. Ich konnte schon fast das breite Grinsen auf meinen Wangen sehen, ich fühlte die energische Kraft eines Trittes meinen Muskeln. Die erfüllende Glückseligkeit - hörte Porzellan bersten und ihren stumpfen Schmerz, als sie unten aufschlug.


Erst die Befriedigung, der Genuss nachgegeben zu haben - und dann der Schock.
Was habe ich getan?!



~


Die Hoffnung, dass es nie wirklich geschehen war, war mir nicht lang vergönnt. Meine Schwester war die Erste, die mich damit konfrontierte. „Oh, hast du es schon gehört? Marianne ist die Treppe hinunter gestürzt.“ erwähnte sie schockiert. Ich schwieg. „Den rechten Arm und das Schlüsselbein hat sie sich gebrochen, die Arme. Wie konnte das passieren? Sie hat noch nie etwas fallen gelassen, geschweige denn sich selbst.“ Ich hasste mich.
Sie hatte mich nicht gesehen. Sie wusste nicht, wer ihr so unerwartet in den Rücken gefallen war. Das weiß ich, weil sie jedem mit Misstrauen und Angst begegnete, als würde sie in jedem den Täter befürchten. Und auch hier fehlte ihr der Mut, für ihr Wohl einzustehen und zu melden, dass es kein Unfall gewesen war.


Ich überzeugte meinen Vater davon, sie bezahlt zu beurlauben. Einen ganzen Monat in der Südlichtbucht, bat ich ihn, ihr zu geben. Damit sie nicht nur gesund wird, sondern sich nachhaltig von der Arbeit erholen könne. Denn welche Bedienstete stürzt die Treppe hinunter, wenn sie nicht völlig ausgelastet ist? Ich hasse mich dafür, meinem Vater eine unwahre Vorstellung eingepflanzt zu haben. Es ist fast, als hätte ich ihn belogen. Ich verabscheue mich zutiefst für diese abscheuliche Gräueltat.


Mein Vater aber lobte mich. Für mein Arrangement der Dienerschaft gegenüber.


Ich wünschte er hätte mich geschlagen, bis ich alles vergesse, was geschehen ist.

Kommentare 8

  • !!!
    W-WHAT?


    Ich finde, du baust das sehr schön auf. Wir sehen, dass der Protagonist Menschlichkeit hat, sich mit den Gästen und Marianne sehr menschlich ins einer Gedankenwelt auseinander setzt und dann vollbringt er doch so eine Gräultat. Es wirkt wie etwas, das er nicht kontrollieren kann, so ein Jekyll&Hyde Ding. Ich mag auch ganz besonders den Schluss, wo eben die Lüge oder das Schweigen ihm ein Lob des Vaters einbringt, wo er doch tatsächlich egoistisch handelt.

    • Wo er doch tatsächlich egoistisch handelt? Du meinst, weil er nur sein Gewissen erleichtern will? Oder damit Marianne erstmal weg ist und schweigt?
      Vielen Dank! :3

    • Beides!

  • Das ist ein sehr intensiver Text. Du schaffst es, beide >Seiten< sehr greifbar zu machen. Die Abscheu vor sich selbst, die Sorge um Marianne, die von ihrem Bruder geschlagen wird, wie furchtbar; und beim Leser die Frage aufkommen zu lassen: ist das echt? Möchte der Charakter einfach so denken und macht sich selbst etwas vor, oder ist er tatsächlich zwischen zwei Welten gefangen? Der Genuss, Marianne übertrumpft zu haben, ihr gezeigt, wie trügerisch >Sicherheit< ist und wie schwach und leichtgläubig sie selbst, ist vielleicht der erschreckendste, weil ebenso greifbare Teil dieser Geschichte.
    Der Abschluss hat mir besonders gefallen. Er verabscheut sich, aber sein Vater lobt ihn. Für sein Arrangement, das eigentlich nur ihn selbst davon befreien sollte, sie sehen und sich mit ihr und seiner Tat auseinander setzen zu müssen. Zumindest wirkt es auf mich so. Mehr davon, bitte.

    • Juhu! Es freut mich, dass der Text intensiv wirkt und scheinbar auch dazu anregt, darüber nachzudenken.
      Mal schauen, ob es mehr geben kann. Ähnliche Situationen wären ja dann auch sehr ähnlich :D Deine Fragen könnten höchstens Ic eine Antwort finden...
      Ich danke jedenfalls für den Kommentar!

    • Ich habe nichts gegen mehr Spiel mit dir einzuwenden ;)

  • Mir gefallen Ich Geschichten immer sehr. Den Zwiespalt in der Hauptfigur finde ich bemerkenswert einerseits bedauert er Marianne und das ihr Bruder sie aus Frust schlägt und dann tritt er sie selbst die Stufen runter. Ich möchte bitte niemals vor ihm auf einer Treppe die in den Keller führt stehen. Er ist gruselig. Dein Schreibstil ist sehr schön mich verwirren etwas die unterschiedlichen Farben.

    • Autsch ja, Kellertreppen sind besonders hart und steil... :D
      Spaß bei Seite. Danke! Was du da angesprochen hast, ist der springende Punkt. hops!
      Die Farben, ja... Eigentlich waren die grauen stellen nur kursiv, aber man hat den Unterschied nicht so wirklich gesehen.