Nordheim - Kapitel 2: Karur

Langsam und in Erinnerungen versunken verlies die Rabin wieder die große Halle, um von der obersten steinernen Treppenstufe den Blick über das verschneite und zum Teil vereiste Nordheim schweifen zu lassen. Von dort konnte man nahezu über das gesamte Dorf blicken. Es war eine Festhalle, die gleichzeitig einem Wachturm gleich kam um alles im Auge behalten zu können. Aber niemand war in diesem Dorf auf Streit aus. Fraja wob ihre Gedanken erneut in Erinnerungen, dachte an den letzten Streit der zwischen um einem anderen Jungen des Dorfes entfachte. Sie stritten darum, welcher ihrer Pfeile eines Holztiers am nächsten war. Björn, so war der Name des Jungen, war sich ziemlich sicher, dass er den Holzeber am ehesten getötet habe, galt er als Sohn eines talentierten Jägers doch als Favorit. Fraja hingegeben war sich ziemlich sicher, dass ihr Pfeil es war, der das Tier zur Strecke gebracht hätte. Jung und Wild wie beide waren, gerieten sie einander und teilten gegenseitig Schläge aus. Selbsterklärend war der Jägers junge der stärkere von beiden und rang die junge Fraja zu Boden. Ein paar Dorfbewohner haben sie anschließend voneinander getrennt und zu den Eltern gebracht, zwischen denen letztlich ein Streit ausbrach, der nur durch eine Volksentscheidung geschlichtet werden konnte. Einen Vorsitzenden gab es nicht, aber für diesen Entscheid durfte ein Neutral gesinnter Norn die Stimmen der Bewohner einfordern. Doch zum Glück ging es für beide Familien friedlich aus, so dass niemand von ihnen eine Strafe erwarten musste. Am nächsten Tag, als Fraja ihrem Vater beim Schichten des Holzes half, kam Björn auf sie zu und entschuldige sich mit einem Schmuckstück, dass er selbst geschnitzt hatte. Mit Freude und Erleichterung nahm sie diese an und letzten Endes wurden sie Freunde. Keine dicken Freunde, aber wenn jemand etwas brauchte, und sei es nur seelischer Beistand oder einen Spielpartner, dann waren sie füreinander da.


Die Erinnerung verblasste und die Schamanin spazierte so langsam durch das Dorf, als hätte sie alle Zeit der Welt … was sie auch hatte. Niemand würde ihr bis hierher folgen … oder doch? Es wäre zumindest sehr unwahrscheinlich, wenn ihr jemand den ganzen Weg unauffällig gefolgt wäre, weshalb sie den Gedanken an einen Verfolger wieder verdrängte, stattdessen auf einen Ort stieß, der erneut Bilder von Erinnerungen in ihrem Kopf rief. Es war die Hütte des Holzfällers … Die Hütte ihrer Eltern, ihr eigenes zuhause. Klein war es keinesfalls. Es erstreckte sich über ein Stockwerk, aus welchem man von oben in die Dorfmitte hinab sehen konnte, wo auch das Götzenbild des Raben aufragte. Nur neblig drangen die Bilder der Vergangenheit durch ihren Kopf … aber an einen Vorfall musste sie besonders denken. Der Tag, als Karur in ihre Hütte kam.
Die Nacht war unlängst angebrochen und Nordlichter erhellten das Dorf, als es an der Tür klopfte und Vater den Fremden herein bat. Ein Rabenschamane aus dem fernen Hoelbrak hatte um ein offenes Ohr gebeten. Selbstredend luden ihr Vater und ihre Mutter ihn zu Speiß und Trank ein. Die sechzehn Winter junge Fraja kam erst jetzt von Maer, ihrer Schamanenlehrerin zurück und betrachtete den Fremden mit Ehrfurcht, formte aber das Zeichen des Raben zum Gruße, indem sie Daumen und Zeigefinger zusammendrückte und die restlichen Finger Wellenartig, wie ein Flückelschlag auf und ab gleiten lies. Der Fremde erwiderte den Gruß, sprach jedoch nicht zu ihr. Einzig die ernste Stimme ihres Vaters drang in ihr Ohr. „Geh bitte nach oben, Fraja.“, sagte er und es kam fast schon einem Befehl gleich. Sie stutzte, zögerte sogar aber tat schließlich was ihr Vater tat und begab sich auf die obere Etage. So sehr sich die Erwachsenen bemühten leise miteinander zu sprechen, Fraja konnte hören worüber sie sprachen.


„Ich sage nochmal, beherzigt meine Warnung … Nordheim mag einer der wenigsten Flecken in den fernen Zittergipfeln sein, aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, ehe die letzten Norn von hier verschwinden. Und wollt ihr wirklich, dass dieser Ort nie eine Legende finden wird?“ Fraja runzelte die Stirn, sah durch einen engen Schlitz in die untere Etage. Und der Gedanke Nordheim zu verlassen drehte ihr den Magen um.
„Aber weshalb kommt ihr in mein Heim, Ehrwürdiger?“, wollte ihr Vater wissen.
„Wegen eurer Tochter“, antwortete Karur leise, fast schon Kühl.
„Fraja?!“ entglitt es ihrer Mutter, und auch Fraja selbst stockte für den Moment mit weit aufgerissenen Augen der Atem.
„Ja … ich habe mit Schamanin Maer gesprochen … Sie ist bereit ihre Schülerin in meine Obhut zu übergeben. Allerdings muss sie dafür mit mir nach Hoelbrak kommen.“
Seine Worte waren wie Steine in Fraja'S Herzen. Was würden ihre Eltern wohl sagen? Würden sie ihre Tochter einfach so ziehen lassen? Schweigsamkeit erfüllte die untere Etage aber Fraja konnte sehen, wie ihre Mutter mit sich Rang nicht die Nerven zu verlieren und.
Letztlich ist es ihr Vater, der das Schweigen brach. „Für ihre Ausbildung können wir nichts tun, aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass es ihr Wille ist diese zu beenden und eine Schamanin zu werden … Was uns angeht ...“ Sein Blick fiel auf sein Weib, die ihm kaum merklich zunickte. „... Wir müssen bleiben … Nordheim muss bis zum letzten Atemzug beschützt werden.“
Während Karur diesen Beschluss abnickte, konnte Fraja nicht glauben was sie da gerade hörte. Tränen schossen ihr aus den Augen, verliefen sich auf ihrer Wange und letztlich erhob sie sich um die Stufen schnell hinabzusteigen und mit enttäuscht verweintem Ausdruck vor ihnen zu stehen. Worte drangen jedoch nicht aus ihrem Mund. Was ihre Tochter über den Beschluss dachte, konnten sie aus ihrem Gesicht ablesen.
„Fraja ...“, fing ihr Vater an, aber sie unterbrach ihn prompt.
„NEIN!“, schrie sie ihn an, wollte zu weiteren Worten ansetzen, aber die Fassungslosigkeit verschluckte ihre Stimme. Sie wollte ihre Eltern nicht verlassen, nicht um jeden Preis dieser Welt … Nicht einmal für eine vollendete Schamanenausbildung. Als ihre Tränen freien lauf nahmen, nahm auch Fraja reiss aus und rannte aus der Hütte. Ihre Eltern konnten nur zu zusehen, wie sie in die Nacht verschwand, seufzend und Ratlos.
„Ich rede mit ihr ...“ Versprach Karur und entschwand ebenfalls.


Auf einem Felsen, welcher die Aussicht in das Bergtal ermöglichte, kniete die junge Norn, weinend und in sich gekehrt. Egal wie kalt der steinige Boden sein mag und wie wundervoll die Nordlichter in dieser Nacht glänzten und der Nacht ein helles Antlitz bot, sie hatte gerade kein Auge dafür. Ihre Gedanken waren überflutet von Kummer. Sie wollte ihre Eltern nicht verlassen …
„Fraja ...“,erhob Karur die Stimme und Ruckartig drehte sie sich um, blieb jedoch auf den Knien versuchte durch ein Schlucken den Tränen Herrin zu werden.
„Ich weiß, dass es nicht einfach ist geliebte Personen hinter sich zu lassen. Aber auch ich spüre, dass dein Interesse und deine Hingabe für den Schamanismus groß ist.“
Sie schwieg, wusste nicht was sie darauf antworten sollte. Karur schien es nicht zu stören, da er sich neben sie setzte.
„Du musst auch deine Eltern verstehen … Sie wollen dass aus dir eine Ehrwürdige Dienerin des Raben wird … willst du das denn nicht? Nur dem Wissen wegen, dass deine Eltern nicht mit dir Reisen werden?“
Die junge Norn schüttelte den Kopf, als Zeichen, dass sie es will.
„Ich habe so viel Zeit hier verbracht.“, sprach sie mit leichtem zittern in der Stimme. „Der Süden … er ist mir so fremd. Ich habe Angst davor diesen Ort zu verlassen. Angst davor, dass ich nie mehr zurückkehren werde … und ...“ Sie verfiel wieder ins Schluchzen, weshalb Karur das Wort für sie übernahm.
„Du fürchtest um das Leben deiner Eltern … Diese Furcht kann ich dir nehmen ...denn ich habe sie überzeugen können, dass auch sie Nordheim verlassen werden. Zwar werden sie uns nicht folgen, aber sie werden einen anderen sicheren Ort finden … Dein Wohl liegt ihnen am Herzen … willst du das so einfach wegwerfen?“
Fraja schwieg, wurde aber wieder Herrin ihrer Tränen und schüttelte den Kopf.
Karur schmunzelte. „Gut … dann solltest du dich darauf einstellen diesen Ort zu verlassen. Ich kann dir sagen, dass der Süden nicht mehr gefährlich ist als der Rest des Nordens. Du hast also nichts zu befürchten. Dein Ehrgeiz und dein Mut macht dich stark.“


Mit den letzten Worten Karurs, verblasste die Erinnerungen und die Rabin fand sich an jenem Felsen wieder, wo sie vor Jahren Tränen vergossen hatte. Die Nacht in welcher ihr Schicksal eine Wende fand. Auf den Knien ruhend wanderte ihr Blick über das klare Bergtal und sie stellte fest, dass sie sich nie für Karurs mut machende Worte bedankt hat ...