Chaos, eine leidvolle Komödie

Nach der kleinen Pause wird das Licht gedimmt. Die Zuschauer haben ihre Plätze wieder eingenommen, letzte Gespräche verstummen, die Blicke richten sich nach vorn zur Bühne.


Der Vorhang hebt sich.


Das Bühnenbild ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Eine bequem aussehende Polsterecke in gedeckten Farben, ein Kamin, in dem nur dem Schein nach ein Feuer brennt, das aber keine Wärme spendet. Davor auf dem Boden das Fell eines Eisbären.
Auf den Polstern sitzt die Protagonistin des Stücks, die Beine ausgestreckt, ein aufgeschlagenes Buch in den Händen, aus dem sie gerade einem Jungen von vielleicht sechs oder sieben Jahren vorliest, der auf der anderen Seite des Sofa's sitzt.


"Die Geburt der kleinen Prinzessin wurde im ganzen Land gefeiert. Und der König lud zum großen Feste in sein Sch..."


Schwungvoll wird im Hintergrund eine Tür aufgerissen, ein kupferrot gelocktes Mädchen betritt die Bühne, lässt neben der Tür eine Schultasche auf den Boden fallen und sondiert mit kritischem Blick die Lage. Ihr folgt leiser ein weiteres Mädchen, sie stellt ihre Schultasche allerdings ordentlich auf einen Stuhl, während die Kupferrote bereits den Raum mit energischen Schritten durchmisst und sich auf dem toten Eisbär in einen Schneidersitz fallen lässt.


"Was liest du da?"

"Dornröschen."
"Dornröschen ist doof."
"Dornröschen ist überhaupt nicht doof!"


Hier mischt sich nun das andere Mädchen ein, dass der vermeintlichen Schwester mitlerweile zum Kamin gefolgt ist und am unechten Feuer ihre Hände wärmen will.


"Doch. Um den Fluch zu brechen hätte man der Prinzessin auch einfach die Finger abhacken können."


Stille. Einzig durchbrochen von dem Rascheln des Papiers, weil die Protagonistin versucht das Buch wieder aufzufangen, das ihr kurzzeitig aus den Fingern geglitten war. Erfolgreich.


"Stimmt."


Nach kurzer Bedenkzeit kommt auch das andere Mädchen zu diesem Schluss. Die Protagonistin hat unterdessen die richtige Seite wieder aufgeblättert. Sie wagt einen neuen Anlauf.


"Die Geburt der kleinen Prin..."
"Wir glauben Millie ist schwanger."

Millie, das wurde während des vorrangegangenen Schauspiels bereits erklärt, ist die Katze des Hauses.


"Ja! Sie ist ganz rund und dick geworden!"
"Lis, wo kommen die Babies eigentlich aus dem Bauch?"


Die Protagonistin tauscht einen kurzen, jetzt leicht angestrengten, Blick mit dem Jungen, der während des ganzen Stückes noch kein Wort gesprochen hat. Die Kupferrote wartet aber keine Antwort ab. Sie spricht gleich weiter.


"Und wie kommen die Babies eigentlich in den Bauch?"


Drei erwartungsvolle, hochinteressierte Augenpaare richten sich auf die Protagonistin. Ein Kenner mag den Blicken der Kinder eine gewisse, schadenfrohe Grausamkeit andichten wollen und sich gar anstecken lassen, während unsere Protagonistin das Märchenbuch jetzt unwillkürlich unglaublich spannend zu finden scheint.


"Liiiiis...!"

Die Protagonistin seufzt ergeben und hebt den Blick.


"Die Frage darfst du mir in vier, na sagen wir, drei Jahren nochmal stellen."


Keine Enttäuschung auf den Gesichtern der beiden Mädchen. Nein, das Funkeln ihrer Augen spricht von einem Triumph, was die Protagonistin in dunkler Vorahnung zum Anlass nimmt das Märchenbuch nun langsam zu schließen.


"Oh, das ist gut. Als ich Alesha das Gleiche gefragt ha..."
"Moment. Du hast Alesha diese Frage gestellt?"


Ein Kenner mag nun auch dem Blick der Protagonistin eine gewisse, schadenfrohe Grausamkeit andichten wollen.


"Natürlich."
"Und was hat er gesagt?"
"Dass ich ihn in fünf Jahren nochmal fragen darf. Du wirst es mir also zwei Jahre früher erklären!"


Die Kinder grinsen. Das Buch fällt zu Boden. Die Protagonistin streicht sich durch die dunklen Haare und lehnt sich zurück, als wäre es von Anfang an genauso geplant gewesen.


"Wollen wir was spielen?"
"Ja... Warum spielen wir nicht 'kleine Meerjungfrau'?"


In die Stimme der Protagonistin hat sich nicht ganz zu Unrecht ein Hauch Argwohn geschlichen.


"Ihr seid die Meerjungfrauen und ich bin die böse Meerhexe, die euch gerade eure Stimmen weggenommen hat."


Abermals Stille. Drei verständnislose Augenpaare und eine Protagonistin, die stumm, aber sehr selbstzufrieden ihren kleinen Sieg feiert, bis die Kupferrote den Kopf schüttelt, dass die Locken nur so fliegen.


"Das ist genauso blöd wie 'Schweben üben'!"

"Schweben üben?"
"Ja! Früher, wenn sie wollte, dass ich leise bin hat sie mir erzählt, dass wenn ich ganz grade und still sitze, und die Augen zu mache und ganz leise bin und mich konzentriere anfange zu schweben."


Vorwurfsvoll wird die Protagonistin angestarrt, die mit sinnendem Lächeln, aber sehnsüchtigem Blick, auf das Buch zu ihren Füßen hinabsieht und sich verstohlen an der Schläfe kratzt, während das Mädchen am Kamin lacht und der Junge in der Runde plötzlich mistrauisch die Augen schmälert.

"Nein, das funktioniert nicht!"

Der Junge nickt langsam nach dieser Erklärung und rutscht demonstrativ vom Sofa, hebt das Buch auf und verlässt die Bühne würdevoll durch die Tür im Hintergrund. Die Protagonistin seufzt. Die Mädchen seufzen. Nach einer kleinen Weile setzt die Protagonistin an zu sprechen, wird aber von der Kupferblonden unterbrochen, die unerwartet mit einem erschrockenen Keuchen aufspringt und zur Tür hastet. Das Mädchen am Kamin und die Protagonistin schauen ihr alarmiert hinterher.

"Was ist los?"

"Ich hab gestern Abend vergessen meine schmutzige Wäsche aus dem Zimmer zu räumen!"


Die Augen des anderen Mädchens weiten sich. Dann schließt sie eilig zu der Schwester auf und stolpert dabei über den Eisbären vor dem Kamin. Sie fällt nicht, aber es war knapp.


"Macht langsam. Wisst ihr, wie oft ich schon etwas vergessen habe?"

"Ja! Aber du bekommst dafür keinen Ärger!"


Rumms! Die Tür fällt zu. Die Protagonistin bleibt allein zurück und starrt mit offfenem Mund und fassungslosem Blick dorthin, wo die Mädchen eben verschwunden sind.


Der Vorhang senkt sich.

Szene Ende.

Kommentare 8

  • Haha, sehr gut. :D

  • Das ist herzallerliebst und saukomisch! <3

  • :D na, da hat Leandra euer Heim ja lebhaft gemacht.

  • Und die Moral von der Geschicht': Dornröschen ist doof. :thumbup:
    Und: man muss im Leben Prioritäten setzen. Märchen < Wäsche
    Sehr unterhaltsam.

  • Schmutzige Wäsche? Das ist doch bestimmt wieder irgendeine Leiche!


    Ich habe damit gerechnet, dass ständig wer über den Eisbärenkopf stolpert und dann das Publikum lacht!


    Aber geht Dornröschen in einer Fantasiewelt wirklich noch als Märchen durch?^^ Und Meerjungfrauen in Guild Wars sind ja wohl Quaggan, Krait oder diese blauen Iorgas. Iargos.

  • Ich habs dir schon in Skype geschrieben, Schnuffels, aber ich schreib es dir auch hier. Wirklich sehr köstlich geschrieben, ziemlich humorvoll, wo ich einige Male belustigt aufschmunzeln musste :D