Nichts passiert!

Hellblaue, beinahe farblose, von rot marmorierenden Adern durchzogene Augen fallen auf die wildledernen Stiefelspitzen hinab. Diese heben sich, in ihrem gräulichen Grün, nur milchig vom dunklen Untergrund der Türschwelle hervor. Die Ränder verschwimmen, als handle es sich nur um einen wässrigen Klecks Farbe. Heute Nacht sind es nicht seine kranken Augen, die ihn beschäftigen oder gar die degenerierte Eigenschaft, nur vor der Sonne abgeschirmt zu existieren. Er muss allen Mut zusammennehmen, muss lernen wieder alleine vor die Türschwelle zu treten. Er muss auf sich selbst vertrauen oder die ewige Einsamkeit seines liebevoll eingerichteten Zimmers ertragen. "Geh weiter!" Die eigene Stimme dröhnt in einem klaren Befehl durch sein nervöses Bewusstsein. Niemals hat er sich vorgestellt, dass ihm der erste Schritt in die Freiheit so unendlich schwerfallen würde. Unfähig, sich die Verbitterung nicht anmerken zu lassen, bläst er ein frustriertes Schnaufen aus. "Idiot!", schimpft sein Unterbewusstsein. Er will IHN insgeheim stolz machen, IHM zeigen, dass all die Umstände, die man sich seinetwegen aufgebürdet hat, nicht vergebens sind. Er muss ihn stolz machen, er muss ihm ebenbürtig in die Augen sehen können. Es ist dieser Gedanke, die plötzliche Erkenntnis, welche sein größter Ansporn ist. Der rechte Fuß wird wie in Zeitlupe gehoben, schwebt einen bedeutungsschweren Moment über der Türschwelle, ehe er die Hacke seines Stiefels wieder absetzt. "Geschafft!" Er jubelt innerlich, kann sich ein frohes Auflachen nicht verkneifen. Er klingt wesentlich unbeschwerter, als er tatsächlich ist, also verklingt der Laut abrupt. Er ist sich gewahr, dass es albern aussehen muss, hier zu stehen, sich nicht nach draußen zu wagen. Ein Blick nach hinten, ins dunkel daliegende Elysium hinein, soll ihn versichern. Da ist nichts, niemand, nur Schwärze. Bildet er sich ein, dass sich die Schatten bewegen? Wird er heimlich beobachtet? Ist ER hier? "Albern! Reiß dich zusammen, Elijah!", wettert seine innere Stimme. "Verdammt, geh weiter! Es ist ganz einfach." Unter Anspannung atemlos und sich die Unterlippe blutig beißend, vervollkommnet er den ersten Schritt, sieht nicht einmal mehr hin. Die Stufen wären ohnehin ein Einheitsbrei aus verschwommenem Grau und Schwarz, ohne bildliche Tiefe. Diesem Umstand hat es der junge Albino zu verdanken, dass er letztendlich strauchelt und sein Gleichgewicht verliert. Die Stiefelsohle ragt über die oberste Stufe hinaus, kippt haltlos ab. Zu weit hinaus gewagt. Einen flüchtigen Moment lang kommt er sich sogar schwerelos vor, dann der unumgängliche Fall. Eine Hand tastet ins Leere, verfehlt den Türrahmen. Zu seinem Glück ist er schon oft gefallen, weiß, wie man sich drehen musst und kommt nur mit einer, von Schmerz verzogenen Visage auf dem Hosenboden an. "Au!" Von einem erheiternden Gedanken übermannt, muss er laut und befreit lachen, legt sich auf die kalten Pflastersteine zurück und versucht die Sterne zu erkennen. "In die Nacht gefallen!" Es ist nichts passiert und doch so viel.

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