Oh, diese Töne!

Wann hatte der Wanderer das letzte mal seine Augen geschlossen?
Er weiß es nicht mehr. Manchmal fallen ihm die Augen zu, wenn die körperliche Erschöpfung endlich seine innere Unruhe und Rastlosigkeit besiegt. Aber wann hatte er das letzte Mal bewusst seine Augenlider sinken lassen und sich aus freien Stücken der Finsternis gestellt?
Er weiß es nicht mehr. In seiner Jugend, gewiss, aber wie weit liegt das schon zurück? Die Wahrnehmung von Zeit ist ihm sowieso längst entglitten.


Nun sitzt er hier, auf der uralten Holzbank meilenweit entfernt von menschlichem Leben, und erfährt das, was er schon fast wieder vergessen hat.


Dabei erinnert er sich unweigerlich an ein lang vergangenes Gespräch mit seinem Großvater Merlin. Sie hatten sich über Sinneswahrnehmungen unterhalten. Er hatte ihm erklärt, dass das Sehen der wichtigste Sinn des Menschen sei. Das Auge sei unser schärfstes Sinnesorgan, darauf verließen wir uns am meisten. Damals hatte er seinem Großvater widersprochen. Ihm sei das Hören viel wichtiger. Taub würde er nicht mehr leben wollen und er würde lieber erblinden, als einen Finger zu verlieren. Merlin hatte nur den Kopf geschüttelt und gelacht.
Und nun hatte das Leben den Wanderer eines besseren belehrt. Er hat am eigenen Leibe erfahren, dass der ureigene Überlebensinstinkt einen verlorenen Menschen dazu zwingt, zu sehen, zu starren, verzweifelt Eindrücke einzufangen und zu verarbeiten, um möglichst schnell Gefahr zu erkennen.
Er seufzt. Ob Großvater Merlin wohl noch lebt? Vermutlich nicht. Es versetzt ihm einen Stich, dass er seit Jahren völliger Einsamkeit wandelt.


Aber in diesem Augenblick ist alles anders. In Vorfreude auf das, was folgen wird, hat er sich vertrauensvoll der Dunkelheit hingegeben, lauscht stattdessen der Stille und dem fernen Rauschen von Ascalons immerroten Laubbäumen. Er riecht den modrigen Geruch des alten Holzes, er spürt den Wind, den das lang vergessene Mauerwerk nicht mehr zurück zu halten vermag und das kalte, spiegelglatte Elfenbein unter seinen Fingern.


Wie wertvoll dieser gegenwärtige Moment wohl für ihn ist? Unbezahlbar. Und dennoch fällt es ihm schwer ihn zu genießen, auszukosten, so wie immer. Er muss an den Charr denken, den er vor einigen Tagen niedergestreckt hatte. Vier Ohren hatte er an seinem Kopf gezählt, aber nur zwei Augen. Ob Charr wohl besser hören, als sie sehen? Vielleicht ist es bei ihnen umgekehrt, verlassen sie sich mehr auf ihr Gehör, als auf ihre Augen? Er ist sich sicher, nie in den Genuss zu kommen, einen Charr danach fragen zu können. Schließlich war er bisher keinem begegnet, der nicht sofort versucht hatte ihn zu töten. Im Stillen verflucht er den Krieg, an dem er gar nicht teilhaben will, und schiebt die Gedanken um den toten Charr wieder fort.


Hier sitzt er also nun, so erfasst von ungestillter Sehnsucht, von der schmerzenden Erinnerung an das was hätte sein können, aber niemals sein wird, dass er sich kaum wagt die Früchte seiner harten Arbeit zu ernten. Ein Schaudern durchfährt ihn, als die Finger über die alten Elfenbeintasten gleiten und er diesen seine Gedanken zuwendet. Wie lang hatte er dieses Jahrhunderte alte Instrument gereinigt, ohne zu testen, ob es überhaupt noch funktioniert? Vielleicht fürchtet er sich davor es anzuspielen und feststellen zu müssen, dass dessen Stimme längst verstummt war. Dann wäre er umsonst so tief in die verfluchten Wälder gedrungen, hätte sich umsonst durch die verlorenen Opfer des Feindfeuers geschlagen, hätte unnötig so viel Zeit verloren.


Als seine Finger dann doch endlich in die Tasten sinken, dringen Tränen in seine erschöpften Augen.
Sie lebt!
Der himmlische Klang ihrer mächtigen Pfeifen erfüllt voll und langgezogen den verlassenen Melandru-tempel. Die Töne erinnern ihn an das Zuhause, das für ihn gestorben ist, an die Liebe seiner Familie, vor der her hatte fliehen müssen. Er spielt einen Akkord, e g c. Er muss die Augen nicht öffnen, um zu wissen wohin er gegriffen hat. Sein Gehör war schon immer etwas besonderes gewesen, das weiß er. Die schlanken Finger gleiten weiter. d f a. Dass dass er zur Melancholie neigt, hatte er bereits früh begriffen. Aber im Augenblick vermag sein Verstand es nicht zu erfassen, welche Noten er gespielt hat, zu ergriffen ist er davon, endlich wieder zu hören.
Menschlich! Zum ersten mal seit Jahren fühlt er, dass er ein Mensch ist. Ohhhh diese Töne, diese göttlichen Klänge, und er ist ihrer Herr!


Er kann sich nicht mehr halten. Er spielt die ersten Klänge einer so vertrauten Klaviersonate an. Ob er sich noch erinnert, wie es geht? Gewiss. So oft er auch mit Hass auf seine Hände nieder blickt, sie würden niemals das Stück vergessen, mit dem er aufgewachsen ist. Sie würden ihn niemals enttäuschen, wenn es um Musik geht. Die kalten Wangen schon längst von Tränen überrannt, spielt er ehrfürchtig jenes Stück, lässt sich schmerzerfüllt von der alten Melodie ergreifen. Oh, diese sanften Töne, durchzogen von dem tiefen Groll des immer wiederkehrenden Trillers. Stumm ehrt er den jungen Komponisten, der nur zwei Monate nach Fertigstellung dieser Sonate verstorben war. Ob er beim Komponieren bereits Grenth ausgestreckte Hand gesehen hatte?
Der Wanderer fühlt, wie trotz seiner Erfüllung und Leidenschaft der Morast seines geschundenen Verstandes zurückkehrt, wie die innere Qual ihm auch heute kaum eine freie Stunde lässt. Er weiß, sobald er die Augen öffnet, wird er Dinge sehen, die nicht real sind. Dinge, die ihn verfolgen, immer wieder den dünnen Boden unter seinen Füßen fortreißen. Schon kehren sie zurück, die Stimmen, die Schreie, die den Klang der Orgel ersticken wollen. Er wehrt sich nicht, denn er hat längst verstanden, dass es zwecklos ist. Dennoch er ist nicht gewillt, dieses herrliche Spiel zu unterbrechen, das seine Glieder warm werden lässt, das die schreckliche Stille in seiner Seele füllen will. So lässt er sich treiben, während ihm das Gefühl Motorik zu entgleiten scheint, seine Hände werden die richtigen Tasten schon finden, wie sie sie immer gefunden haben.
Und er lauscht. Es klingt befremdlich, auf dieser alten Orgel, die Sonate die für ein anderes, aber ähnliches Instrument geschrieben wurde, doch die Melodie ist so vertraut. Sie ruft ihn, sie berührt ihn, während das Chaos über ihm zusammenbricht, die arme Seele mit sich reißen und beherrschen will, aber er lässt nicht los. Er will nicht zulassen, dass ihm die Realität gänzlich entgleitet, dass er sich wieder selbst vergisst. Die gigantischen Pfeifen dröhnen in seinen feinen Ohren, lassen die Luft erzittern als er immer schneller, kräftiger in die Tasten schlägt, gehorsam der Steigerung des Stückes folgt. Er sieht eine graue Wolkenfront, einen verheerenden Sturm, der ihn ereilen will. Die Wolken nehmen die Form kräftiger Wildpferde an, die im Galopp auf ihn zu stürmen und schließlich ohrenbetäubend über ihn hinweg donnern. Er lächelt, als die Töne wieder ruhiger werden. Dieses Bild ist ihm schon als Kind erschienen, immer genau an dieser Stelle des Stückes.
Ohne Gedanken zu formulieren, weiß er, dass die tiefe Liebe zu dieser Sonate stärker ist als seine inneren Dämonen, die ihm sein Leben lang unbesiegbar erschienen waren. Sie ist stärker als diese so unbegreifliche Macht, die ihm sein zivilisiertes Leben genommen hat. Er wünscht sich, dass seine Hände niemals ermüden würden, dass er auf Ewig seine Musik spielen könnte, die ihn heute vor seinem zerstörerischen Hass gerettet hat.
“Musik ist Balsam für die geschundene Seele.” wispert er. Vielleicht, wenn er öfter hierher käme, könnte er einmal seine Qual vergessen, die tiefe Abscheu vor sich selbst und die vielen Toten, die er gesehen hat.

Kommentare 5

  • Da sind einige kleine Zaubermomente drin. Mich persönlich hat dieses einfache 'Sie lebt' am meisten berührt, aber ich finde es auch schön, wie du auch in geschwolleneren Worten aufbaust, was James da erlebt, da sein Zugang zur Musik ja doch sehr besonders ist.

  • Er sollte sich so eine Spieluhr mit dem Stück machen lassen, die er nachts dann - für alle außer ihn selbst - unheimlich klimpern lässt.


    Das mit dem sterbenden Komponisten hat mir auch gefallen.

    • Oh! Naja eine Spieluhr ist zwar eine süße Idee, würde ihn aber höchstens ein wenig daran erinnern, keinesfalls befriedigen. Die Qualität des Stückes liegt für ihn ja in der Polyphonie, die anspruchsvolle Musik auszeichnet und darin, das ganze selbst zu spielen und zu gestalten... Das kann eine Spieluhr nicht bieten!


      Falls es dich interessiert, das Stück gibt es wirklich, ist mit das Letzte das Franz Schubert komponiert hat. Dass er an Syphilis starb, habe ich mal nicht in die Geschichte eingebaut... xD

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