Mord, der Erste




1324 n.E.



Carcair keuchte. Es war nicht wirklich zu verhindern. Menschen mochten weich und schwach sein, aber sie waren schwer. Schwerer als ein vergleichbarer Sylvari zumindest. Vermutlich lag es an dem Fett, das sie ansetzten. Weiches, wabbeliges Fett, weiße Fäden im Fleisch, die zwischen den Zähnen stecken blieben wenn man versuchte es zu essen. Ekelhaft.


Kurz gesagt, Menschen waren furchtbar. In jeder Hinsicht. Carcair verachtete Menschen. Ihr Fleisch war nicht nur weich und verletzlich, sondern auch noch durchscheinend, sodass man all die widerlichen Farben unter der Haut ausmachen konnte: Rotes Blut, gelbe Sehnen, grüne Adern. Urgh.


Noch dazu gab es keine charakterliche Eigenschaft, die er an Menschen schätzte. Sie waren heuchlerisch, schwach, beschränkt; sie waren Tiere, die sich in ihren eigenen Exkrementen wälzten. Carcair schätzte den Pragmatismus der Charr, die Effizienz der Asura und… nun, Norn waren eigentlich fast so dämlich wie Menschen. Aber wenigstens waren sie kompromisslos direkt, das wusste er zu schätzen. Menschen hingegen, Menschen logen, wenn sie den Mund aufmachten. Heuchelei war untrennbar mit ihnen verknüpft. Eine Spezies von selbstgerechten Versagern.


Zugegeben, es war immer noch besser eine Menschenleiche zu tragen als eine Nornleiche.


Der Schlamm machte den Weg noch beschwerlicher. Es regnete, es war stockfinster, es war eiskalt. Das perfekte Wetter, um eine Leiche zu beseitigen. Niemand würde sich jetzt vor die Tür wagen, und niemand konnte etwas erkennen, wenn er durchs Fenster sah.


Das einzige, was Carcair störte, war das ferne empathische Echo, das ihn immer wieder einholte. Keine Ahnung, was das war. Entweder jemand verfolgte ihn, oder im Hain hatte sich eine Mimose den Zeh gestoßen.


Aber in dieser Dunkelheit konnte sowieso niemand etwas sehen, egal, ob jemand in der Nähe war. Der Himmel war so dick mit Wolken verhangen. Carcair war blind.


Und er stolperte. Gesicht voran klatschte er ins schlammige Gras.


Sein Mund voller Dreck. Seine leergepresste Lunge brennend. Die Gliedmaßen steif wie Eisbrut. Carcair konnte sich nicht rühren, begraben unter der Leiche. Noch dazu half ihm ein ziehender Schmerz im Bein zu der Erkenntnis, dass die Fleischwunde dort wieder aufgerissen war. Und er hatte nicht einmal Verbandszeug dabei. Sogar diese Notwendigkeit war zu teuer geworden.


Für einen Moment schloss er die Augen, drückte die Stirn ins Gras und erwog, einfach so liegen zu bleiben. Für immer. Es klang verlockend. Irgendwann würde ihn ein Passant mit einer Leiche finden und dann würde ihn wohl die Löwengarde ins Gefängnis werfen, aber im Gefängnis… war es trocken und man bekam etwas zu essen. Eine deutliche Verbesserung seiner momentanen Situation.


Seine Gedanken drifteten zum Hain ab. Dämlich grinsende Trottel. Verbotene negative Gefühle. Leere Predigten. Klugscheißer. Essen und Unterkunft für jeden. Cathair. Sonne. Wasser. Und es war warm. Immer warm.


Carcair presste die Kiefer zusammen und fletschte die Zähne. Vielleicht ein Grinsen. Vielleicht auch nicht. Er wusste: Er brauchte das alles nicht.


Mit aller übrigen Kraft stemmte er sich gegen den Boden und begann irgendwie, sich von der Leiche zu befreien. Stück für Stück kämpfte er sich nach vorne. So einfach besiegte ihn kein toter Haufen Fleisch. Nicht jetzt. Nicht in Zukunft.


Schnaufend zog er die Beine nach und richtete sich auf. Gut, er konnte stehen. Nur die Leiche, die würde ein Problem werden.
Trotzdem wandte er sich zu dem Toten um, den er in der Dunkelheit kaum sehen konnte. Ein Licht zu machen war ein zu großes Risiko, er musste es irgendwie durch die nasse Schwärze schaffen. Mit tauben Fingern suchte er nach irgendetwas, das er greifen konnte; die Kleidung des Toten war komplett durchnässt von Regen und Blut. Übelkeit stieg in ihm auf. Normalerweise hatte er kein Problem mit Leichen. Aber das hier war widerlich. Und Carcair hielt alles fern von sich, was widerlich war. Aber heute hatte er keine Wahl. Während der Abscheu (oder der Hunger?) ihm den Hals zuschnürte, zerrte er irgendwie mit eingefrorenen Gliedmaßen die Leiche auf seine Schultern.


Er würde es schaffen und überleben. Kein Gefängnis. Kein Verhungern. Carcairs Grinsen wurde breiter. Er fand immer einen Weg. Schritt für Schritt kämpfte er sich voran. Nur noch ein Stück. Nur noch ein kleines Stück. Er würde es schaffen.


Für eine Weile fixierte er seinen Geist nur auf sein Ziel. Und dann ließ er die Leiche endlich auf die Brücke fallen wie der Fleischsack, der sie war. 80 Kilogramm Fleisch. Hm. Carcair blinzelte ein paar Regentropfen aus den Augen und spürte das bohrende Loch in seinem Magen. Dann setzte er sich wieder in Bewegung.


Er schaffte es, einige Steine zusammenzusuchen. Deutlich schwieriger war es, sie festzubinden in kompletter Dunkelheit, während er ein einziger Eiszapfen war. Er wurde fast wahnsinnig, während seine nassen, eingefrorenen Finger immer wieder über die Knoten stolperten. Die aufsteigenden Aggressionen hatten wenigstens den positiven Effekt, Carcair etwas Energie zurückzugeben.


Mit einem dumpfen ‚Pflatsch‘ landete die Leiche tief unter ihm im Meer. Versank sie? In der Dunkelheit unmöglich zu sagen. Aber in diesem Moment war Carcair es egal. Die Erleichterung überwog, keine gute Erleichterung, sondern die Erleichterung etwas Schreckliches hinter sich zu haben, um die Chance auf mehr Schrecklichkeiten zu erhalten. Carcairs Knie gaben nach und er knickte auf der Brücke ein.
Sollte er bereuen? Er wusste es nicht. Er hatte noch nie etwas bereut, vielleicht war er dazu gar nicht in der Lage. Doch er selbst war für jeden Aspekt der Situation verantwortlich, in der er sich jetzt befand. Da war er sicher. Und was es ihm gebracht? Er hatte alles verloren. Seine Familie, die sich gegen ihn gewendet hatte. Sein Zuhause, wenn auch zugegebener Maßen ein sehr langweiliges Zuhause. Sein Geld, auch wenn er sich nicht viel daraus machte. Sein Essen, was ihn noch weniger interessierte. Seinen Körper, und das schmerzte ihn am Meisten. Aber da würde alles wieder zusammenwachsen.


Seine Waffen, stellte er dann fest. Er hatte seine Waffen noch. Er, Sternchen und seine namenlose Schrotflinte. Seine Waffen waren für ihn da, immer. Leute waren nur da, wenn es leicht war. Waffen verließen ihn nicht, auch wenn es um Leben und Tod ging. Sie waren die verlässlichsten und loyalsten Begleiter. Er zog sie Sylvari bei Weitem vor.


Seine Waffen. Mehr brauchte er nicht. Das Lächeln kroch zurück auf Carcais Gesicht. „Gewonnen, du Stück Dreck“, flüsterte er. „Du bist tot und ich lebe.“


Er hatte gedacht, Carcair sei ein gutes Opfer. Ein kleiner, hungriger Setzling, der gerade aus dem Hain weggelaufen war. Perfekt, um ihn über den Tisch zu ziehen.


Tja, Pech gehabt. Da hatte er sich den falschen Sylvari ausgesucht. Und es war garantiert kein Zufall gewesen, dass es einen Sylvari getroffen hatte. Sylvari. Naiv. Friedfertig. Harmoniesüchtig. Carcair hasste das Klischee. Und wenn er ein paar Leute umlegen musste, um es zu brechen, dann sollte ihm das recht sein.


Sein Blick löste sich von dem schwarzen Abgrund, aus dem das entfernte Meeresrauschen hochdrang. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass die Leiche so lange unter Wasser blieb, bis sie nicht mehr zu identifizieren war. Dass niemand diesen Typen suchte. Und dass niemand sich an Carcair erinnerte. Was nicht ganz einfach war, wenn man so rot strahlte, dass die meisten Leute davon blind wurden.
Zeit, zu verschwinden.


Mit wackeligen Beinen stand er auf. Das brauchte eine Menge Willenskraft, mehr, als er eigentlich geglaubt hatte, zu besitzen. Aber er schaffte es. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so elend gefühlt zu haben. Sein Magen fraß sich selbst auf, seine Extremitäten waren wie abgestorben und seine Kleider schienen sich von all dem Dreck und Wasser aufzulösen. Der Dreck war ohne Zweifel das Schlimmste.
Er vermisste seine Blätter. Die hätten sich nicht vollgesogen mit Schlamm, sie hätten ihn nicht so sehr ausgekühlt, und sie hätten kein Geld gekostet. Aber er schaffte es nicht. Jedes Mal, wenn irgendwo Blätter sprossen, schnitt er sie ab.


Plötzlich fühlte er wieder diese diffuse Präsenz. Er war nicht einmal sicher, ob es ein Sylvari war, oder irgendetwas Anderes. Er sah sich um, aber da war nichts. Eine Weile lang starrte er in die formlose Nacht, dann raffte er sich auf. Wenn da draußen jemand war, konnte Carcair im Moment sowieso nichts dagegen ausrichten. Die Löwengarde war es immerhin ziemlich sicher nicht.


Carcair setzte sich in Bewegung. Alles in ihm sträubte sich dagegen, vor allem seine geprellten Rippen und der Schnitt in seinem Bein. Wohin er ging, wusste er nicht. Er musste hier weg. Sein Kopf war völlig leer, während er den Weg entlang stapfte.


Löwenstein war zu gefährlich. Aber er hatte nicht die Ausrüstung, die nötig war, um in der Wildnis zu überleben. Und er kannte sich nur im Dschungel aus, nicht auf den Grasländern Krytas oder den Zittergipfeln. Vielleicht hätte er sich Sorgen gemacht, wenn er die Kapazitäten dafür gehabt hatte. Aber er war zu müde dafür.


Das Gefühl, diese eigenartige Präsenz hatte sich verändert. Jetzt fühlte es sich schon fast greifbar an. Wie Atem in seinem Nacken. Carcair blieb stehen. Wirklich wach wurde er nicht. Eigentlich hatte er keine Lust, jetzt noch jemanden zu erschießen. Vor allem, weil so ein Schuss verdornt laut war.


Trotzdem zuckte seine Hand zu seiner Pistole. Der Reflex hatte sich auch nach zwei Jahren schon tief eingebrannt.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er Schritte im Sand hörte. Dann erklang die fremde Stimme direkt hinter ihm. „Carcair.“
Er fuhr herum und drückte der Gestalt die Pistole auf die Brust. An der blauen Lumineszenz erkannte er – ein Sylvari, tatsächlich. Völlig fremd, auch wenn er seinen Namen wusste. Und verschleiert. Wie überaus seriös.


„Wer bist du?“ Seine eigene Stimme war rauer als erwartet. Was ihn nicht daran hindern würde, abzudrücken.


„Ich habe ein Angebot für dich.“


„Und warum sollte ich dich nicht erschießen?“


Der Sylvari hielt ihm ein Blatt Papier hin. Carcair starrte darauf und runzelte die Stirn. Es war stockdunkel und es regnete. „Ist das ein Witz?“


„Sei in zwei Tagen an der Marschwacht-Freistatt. Schließ dich dem Söldnertrupp an und halt dich an eine Sylvari namens Shay.“


Carcair musterte den Fremden kritisch. Ein wenig von der Aufmerksamkeit, die ihm das Leben in Löwenstein antrainiert hatte, kehrte trotz seiner Erschöpfung zurück. Der Sylvari sah ihm unerbittlich in die Augen. Etwas faszinierte Carcair daran. Sein Blick hatte etwas Hartes. Keine Zweifel, keine Gnade, kein Kompromiss.


Carcair nahm das Papier an. Nach einem Moment senkte er die Pistole. „Und was bringt mir das Ganze?“


Natürlich war ein ordentlicher Söldner-Auftrag außerhalb Löwensteins gut genug, um Carcair aufspringen und losrennen zu lassen. Aber wenn er eines in seinem kurzen Leben gelernt hatte, dann dass maskierte Gestalten im Dunkeln keine Wohltäter waren. Und diese Sache hier, die hatte einen gewaltigen Haken.


„Du wirst nie wieder hungern müssen.“


Essen? Er versuchte ihn mit Essen zu ködern? Und er hatte schon auf etwas Reizvolles gehofft. „Hunger interessiert mich nicht. Was kannst du mir wirklich bieten?“


Der Fremde erwiderte seinen Blick stoisch. Carcair hatte keine Ahnung, was er dachte. Nicht viele Sylvari waren gut darin, ihre Gefühle so zu verbergen. Seine Empathie war undurchdringlich wie Nebel, das einzige, was Carcair spürte, war Aufmerksamkeit.


Dann wandte er sich um und winkte Carcair mit sich.


Carcair blieb wie angewurzelt stehen.


„Woher weiß ich, dass ich dir trauen kann?“ Es war eher eine Anstandsfrage – aber eine, die gestellt werden musste.


„Kannst du nicht.“


Er spielte auf Risiko, stellte Carcair erstaunt fest. War diese Ehrlichkeit echt? Und wie weit gespielt war das Desinteresse? Ungewöhnliche Taktik, vor allem für einen Sylvari. Er konnte das respektieren.


Sein Blick zuckte zu den Waffen des Fremden. Schwer zu sagen in der Dunkelheit, aber da war wohl ein Schwert oder eine Axt. Und das auf der anderen Seite mochte eine Pistole sein. Er hätte wohl mehr als genug Gelegenheit gehabt, Carcair außer Gefecht zu setzen, wenn er es wollte.


Aber es war trotzdem nicht auszuschließen, dass er ihn in eine Falle lockte. Nur die Wahrscheinlichkeit, dass diese Gestalt für die Löwengarde arbeitete, schätzte er gering ein.


Carcair steckte die Pistole ins Holster zurück und humpelte hinterher.

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