Opfergaben

Er spürte die Kälte des vereisten Bodens an seinen Knien. Die Härte des Untergrundes drückte gegen seine Stiefel und die Hose. Schwer waren die Atemzüge der anderen Norn, die an seiner Seite auf die Knie gefallen waren und schweigend ausharrten. Vor ihnen türmte sich ein gewaltiges Totem auf. Sicher bräuchte man drei gestandene Norn, die auf den Schultern des Anderen standen um auch nur annähernd die Höhe dieses Totems zu erreichen. Der Jäger starrte auf die raue Eisfläche vor sich, die den steinernen Boden überzogen hatte.
Kleine Wölkchen drangen aus seiner Nase, als er tief ausatmete. Sie alle waren angespannt. Doch Angst hatte keiner. Der Letzte in ihrer Reihe der ängstlich gewesen war, stürzte sich vor ungefähr fünf Tagen von einer Klippe. Niemand hatte ihm nachgesehen.



Geduldig warteten sie. Gefühlt seit Stunden. Und nichts geschah. Das Totem, das einen aus Eis geformten Drachen zeigte, starrte aus scheinbar funkelnden, aber leeren Augen auf sie hinab. Das Maul war zu einer aufgerissenen, zahnreichen Fratze geformt. Keiner wagte es, den Blick zu heben. Der Singsang des Schamanen haftete schwer in der Luft. Seine Worte waren wie Schnitte in ihren Köpfen. Sie zerrissen ihre Gedanken, bearbeiteten ihre Herzen mit jeder fremdklingenden Silbe und fühlten sich an wie nadelspitze Schläge.


„Du wirst ihn nicht mitnehmen!“ Die Arme des Weibes schlangen sich um den Körper des Jungen. Sie funkelte den Kerl ihr gegenüber wütend an.
„Lass ihn los, Weib. Oder ich schwöre dir ... ich werde dich töten.“


Der Jäger blinzelte. Warum holten ihn gerade jetzt die Gedanken an die Vergangenheit ein? Er war hier und war bereit. Obwohl er sich insgeheim eingestand, dass er sich nicht sicher war, bereit zu sein. Mühsam versuchte er, seine Gedanken erneut zu seinen Eltern zu lenken. Das Bild war verschwommen und einen klaren Gedanken zu fassen blieb ihm verwehrt. Noch immer dröhnte der Singsang des Schamanen durch die Luft. Einen Augenblick. Zwei. Dann erstarb er. Niemand hob den Kopf.
„Ljod. Mein Sohn. Erhebe dich und tritt vor. Berichte dem Größten der Tiergeister von deinen Taten und bringe ihm dein Opfer.“
Abermals verstrich ein Hauch an Zeit. Schließlich erhob sich ein Norn, der sogar noch um einiges jünger war, als der Jäger selbst. Alle Augen richteten sich auf den Burschen. Er trug ein unförmiges Bündel mit sich, das er entpackte sowie er vor dem Totem des Drachen stand.
„Großer Drache,“ begann er. „Ich bringe dir ein Opfer. Ein Mitglied des Wolfsrudels, das ich selbst mit meiner Klinge getötet habe. Er war zu schwach, um die echte Stärke zu sehen die du uns verleihst. Ein Blinder der nicht weiß, dass du der einzig wahre Geist der Wildnis bist. Und damit, großer Drache, opfere ich dir Eirik. Meinen Bruder.“ Auf den Boden zwischen Totem und Ljod fiel der abgetrennte Kopf eines männlichen Norn.


Der Schamane trat vor, erhob seinen vereisten Stab und damit auch seine Stimme. „So sei es! Das Blut der Unwürdigen nährt ihn und deine Taten werden dir seinen Segen sichern. Mache dich bereit, den Segen des Drachen zu empfangen, würdiger Ljod.“
Der junge Norn breitete die Arme aus und legte den Kopf ein wenig in den Nacken. Alle sahen gebannt zu, wie er seine Augen schloss und der Schamane die Stabspitze in kleinen Kreisen durch die Luft zog. Reif breitete sich auf dem Boden aus, zog sich selbst auf die Stiefel und Beine der Anwesenden.
„Ehre dem Drachen!“ sprach der Schamane.
„Ehre dem Drachen!“ kam das Echo von den Anwärtern, die sich nun endlich erhoben.
Mit einem Ruck drang die Stabspitze in die Brust des jungen Norn ein. Es knackte, Ljod keuchte und seine Knie gaben nach. So wie er zu Boden sank, zog der Schamane seinen Stab wieder aus dem Jungnorn und betrachtete die Stabspitze. Dort eingefasst funkelte der große Splitter verdorbenen Eises bedrohlich und war von Blut befleckt. Niemand wagte es auch nur einen Laut von sich zu geben. Alle starrten auf den nun liegenden Ljod, der sich unter Todesschmerz wandt.


Eis überzog den Körper des jungen Norn. Die Gliedmaßen verdrehten und veränderten sich. Sie wucherten aus und verleihten dem sterbenden Norn ein abscheuliches Aussehen. Er schrie, brüllte und ja, er weinte. Hier und da ging einer der anderen Norn einen Schritt zurück. Doch keiner rannte davon. Sie alle wollten wissen, was der Segen des Drachen war, den der Schamane ihnen versprochen hatte. Sie alle waren zu gefesselt von dem Bild, das sich ihnen bot.


Der Jäger schluckte hinter seinem schützenden Schulterfell schwer und ungesehen. Den Blick vom Geschehen abzuwenden schaffte er nicht. Doch er musste sich endlich dem Einfluss des Drachen entziehen. Er musste diesem und seinem Vater den Rücken zuwenden und sich von den Ketten losreißen, wenn er nicht so enden wollte wie Ljod.
Er war sich sicher, dass sein auserwähltes Opfer ihm genau das einbringen würde, was gerade auch Ljod erhielt.
Schier grenzenlose Macht, Stärke und Einfluss. Im Gegenzug gab er sein Leben, seine Freiheit und das Andenken an alles, was ihm wichtig war.

„The Norn will not change simply because the Dwarves do not understand our ways.
I'd rather be hated for who I am than loved for who I am not.“

Jora

Kommentare 8